Читать книгу Die tote Zeugin - Georg Kustermann - Страница 10
Übersee, etwa zur gleichen Zeit
ОглавлениеDer Abend mit ihrer besten Freundin tat Steffi unendlich gut. Ihr Vater hatte es nach dem Tode ihrer Mutter nie geschafft, eine innige Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen. Der Hof und die Arbeit waren einfach immer an erster Stelle gestanden. Ihre Großmutter hatte sich damals weitgehend um sie gekümmert, aber auch diese war wenige Jahre später gestorben. So wurde bald die Gemeinschaft im Internat ihre Ersatzfamilie, die Distanz zu ihrem Vater eher noch größer. Claudia war seit dieser Zeit immer ihre engste emotionale Bezugsperson gewesen.
Die Modebranche in Düsseldorf hatte eher für oberflächliche Bekanntschaften als für echte Freundschaften gesorgt und Steffi fühlte sich in dieser verrückten Welt aus Scheinwerfern, Fotografen und Medienrummel an manchen Tagen tatsächlich sehr einsam. Sie konnte mit Claudia einfach über Dinge reden, die sie sonst mit niemanden teilte und erst jetzt beim Quatschen merkte sie, wie sehr ihr bei dem ganzen Jet-Set Leben eine wirkliche Freundin gefehlt hatte.
Irgendwann beendete ein Anruf von Carsten den Abend relativ abrupt.
„Hi Schatz! Es tut mir wirklich leid, aber es wird wohl nichts mehr mit unserem Treffen im Biergarten. Die ganze Ballonfahrerei hat doch länger gedauert als geplant und jetzt ist unsere Truppe noch hier in Traunstein, gelinde gesagt, etwas abgestürzt. Heißt, ich bin nicht mehr ganz fahrtauglich. Ein Kollege, der heute hier übernachtet, würde morgen meinen Wagen nach München zurückbringen, aber wenn du mich abholst, könnten wir beide gemeinsam nach Hause fahren.“
Er nannte ihr noch eine Adresse fürs Navi, keine zwanzig Minuten von Übersee entfernt und kurz darauf machten sich Steffi und Claudia fertig zum Aufbruch.
„War echt nett, Claudi und du hast mir wahnsinnig gutgetan. Vielleicht können wir uns ja mal mit Tom und Carsten gemeinsam treffen. Mir würde es wirklich guttun, wieder ein bisschen Kontakt mit der alten Clique zu kriegen.“
„Wann immer du willst! Du bist die von uns beiden mit dem vollen Terminkalender. Bei uns geht nach wie vor fast jedes Wochenende eine Berg- oder Biketour zusammen und München ist ja nicht völlig aus der Welt! Schließt euch doch einfach mal an! Glaub mir, die Jungs sabbern geradezu danach, Miss Supermodel wiederzusehen!“
„Mach mir bloß keine Angst und sag den anderen schon mal, dass jeder, der blöde Sprüche ablässt, eine geknallt gekriegt.“, meinte Steffi lachend.
„Aber grundsätzlich gerne! Vielleicht kann ich ja auch Carsten mal aufs Mountainbike zerren, ins Fitnessstudio geht er schließlich auch!“
Sie umarmten sich zum Abschied, dann stieg Claudia in ihren alten Golf und verschwand Richtung A8 in der Dunkelheit. Steffi blickte den verschwindenden roten Rücklichtern noch eine Weile nach, dann setzte sie sich in ihr Cabrio und legte den Kopf in den Nacken. Durch den Neumond präsentierte sich der Sternenhimmel einfach atemberaubend. Die Milchstraße zog als deutlich sichtbares Band quer über den Himmel und die Sterne erzählten mit ihrem kalten Funkeln die Geschichten von längst vergangenen Zeiten. Es hatte sie schon immer fasziniert, dass das nächtliche Firmament praktisch ein bunt zusammengewürfeltes Abbild aus verschiedensten Zeitaltern darstellte, weil viele der sichtbaren Sterne schon vor Jahrmillionen verglüht waren, während ihr Licht erst jetzt die Erde erreichte.
Im Grunde ihres Herzens war Steffi eben eine hoffnungslose Romantikerin. Leider war das alles überhaupt nicht Carstens Ding und wenn sie sich selbst gegenüber ganz ehrlich war, hatte Claudia mit einigen ihrer Bedenken schon Recht. Nüchtern betrachtet hatte sie mit ihrem Freund nicht so extrem viel gemeinsam.
Sie Sport- und Outdoorfreak, er eher Party- und Promiszenenbesucher. Sie eher verträumt, hungrig nach allem, was das Leben verrückt machte, er eher sachlich und nüchterner Geschäftsmann. Aber Steffi und Männer, das war schon immer ein ganz eigenes Kapitel gewesen.
Während ihre Freundin nie Probleme im Umgang mit dem anderen Geschlecht gehabt hatte, war Steffi als Teenager vielleicht gerade wegen der verkorksten Beziehung zu ihrem Vater ziemlich unsicher gewesen. Als ihr dann irgendwann wegen ihres guten Aussehens die Jungs nachzulaufen begannen, wurde es nicht besser. Sie wusste einfach nie, ob das Interesse wirklich ihr oder nur ihrem attraktiven Äußeren galt. Sie hatte daher während ihrer ganzen Schulzeit nie einen festen Freund gehabt. Irgendwann war sie tatsächlich als arrogante Zicke verschrien, obwohl ihre engeren Freunde genau wussten, dass das nicht stimmte. Ehrlich gesagt beneidete sie Claudia um ihre Beziehung zu Tom, was nicht hieß, dass sie ihrer Freundin diese nicht von ganzem Herzen gönnte. Sie hätte einfach selber gerne so einen seelenverwandten Menschen an ihrer Seite gehabt.
Ihr Eintauchen in die schrille Welt der Modebranche hatte das Ganze noch schlimmer gemacht. Je bekannter sie wurde, desto mehr wurde sie von Männern umschwärmt. Aber Steffi war nicht blöd. Sie konnte Schürzenjäger und Goldgräber sehr wohl von Männern mit ernsthaften Absichten unterscheiden. Plötzlich wurde ihr fast schmerzhaft bewusst, dass es Promis bei der Partnersuche wirklich nicht leicht hatten. Es war einfach oft nicht festzustellen, ob das Interesse dem Model oder dem Menschen Stephanie Seiler galt.
Irgendwann war dann Carsten in ihr Leben getreten. Ein Fotograf hatte ihn ihr als geschäftlichen Berater, der sich in der Szene auskannte, empfohlen. Er war einfach da gewesen, als sie in den ersten Wochen in Düsseldorf völlig auf sich allein gestellt war. Er war immer zuvorkommend, höflich und auf seine ihm eigene Art auch sehr charmant gewesen.
In geschäftlichen Dingen wurde er als Manager schon bald unentbehrlich für sie und so war es dann irgendwann einfach passiert, dass er Ihr erster fester Freund wurde. Zugegeben, die ganz großen Schmetterlinge flatterten nicht gerade im Bauch herum und auch der Sex war zwar immer ganz gut, ließ aber auch nicht wirklich das Universum explodieren.
Aber nach zwei Jahren im harten Modegeschäft und im Rampenlicht der Öffentlichkeit hatte Steffi mittlerweile genug Realitätssinn entwickelt, um eine Beziehung basierend auf Ehrlichkeit und Vertrauen zu schätzen. Als Carsten dann noch in Los Angeles, kurz nach dem Nike-Deal, wenn auch etwas zögernd, ihrem Drängen nachgegeben hatte, wieder nach München zu ziehen, war sie ihm ehrlich überrascht um den Hals gefallen. Sie war glücklich, dass er bereit war, sie in ihre alte Heimat zu begleiten. Sie brauchte einfach ihre Berge zum Leben. Vielleicht konnten ihre Beziehung und ihre gemeinsamen Interessen hier ja weiter wachsen.
Ihrer verträumten Stimmung gemäß wählte Sie Errol Garner, die große amerikanische Jazz-Legende für die Musikanlage ihres Wagens, startete den Motor und begleitet von soften Klavierklängen glitt sie hinein in die betörende Umarmung einer trägen Sommernacht. Der warme Fahrtwind spielte mit ihrer blonden Mähne und die Scheinwerfer warfen tanzende Bilder auf den Waldsaum hinter dem Straßenrand. Kurz hinter Vachendorf sah sie urplötzlich Blaulichtblitzen vor sich.
Die Straße war gesperrt und ein Streifenwagen stand mitten auf der Fahrbahn. Sie hatte kaum angehalten, als ein einzelner Polizeibeamter grüßend an ihr Cabrio trat. Er grinste sie hinter seinem Vollbart etwas schief an.
„Tut mir leid, schöne Frau. In der Kurve ist ein LKW im Straßengraben gelandet. Wird sicher noch ein, zwei Stunden dauern, bis die Strecke wieder befahrbar ist. Sie können aber gleich da vorne die Umfahrung über Tinnerting und Irlach nehmen, wird höchstens zehn Minuten länger dauern. Gute Fahrt noch!“
Steffi war zwar etwas verdutzt, weil sie nur das eine Blaulicht und ansonsten keine Warnlichter von Bergungskränen oder Ähnlichem erkennen konnte, aber sie machte sich auch keine weiteren Gedanken darüber. Wahrscheinlich war das Ganze gerade erst passiert und der Streifenwagen war einfach als Erstes an der Unfallstelle gewesen. Sie wendete und folgte nach wenigen hundert Metern der Beschilderung Richtung Tinnerting. Es war eine fast mystische Stimmung, als sie zu den Klängen von Errol Garners Misty in die völlige Dunkelheit des unbeleuchteten Waldweges hineintauchte. Nur kurze Zeit später tauchte im Lichtkegel ihrer Scheinwerfer ein erneutes Hindernis auf der Straße auf.
Das war …, oh nein! Beim näheren Hinsehen konnte Steffi erkennen, dass offenbar ein Motorradfahrer gestürzt war. Er lag, mit Helm und Lederkombi bekleidet, bewegungslos neben seiner Maschine auf der Straße. Verdammt! Aber immerhin war die Polizei ja gar nicht weit weg. Sie ließ den Motor laufen, zog die Handbremse und stieg aus dem Wagen. Immer noch umfingen sie die Klänge von Misty, als sie sich besorgt über den Gestürzten beugte.
Das Letzte was sie wahrnahm, war der widerliche, süßliche Geruch des Lappens, der ihr urplötzlich mit brutaler Gewalt von hinten über Mund und Nase gepresst wurde. Dann driftete die Welt langsam aus ihrem Bewusstsein und sie tauchte in die schwärzeste Nacht ihres Lebens hinein.