Читать книгу Die tote Zeugin - Georg Kustermann - Страница 7

Cannobio, Westufer Lago Maggiore, 31. August

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Michael Stadlers Lungen brannten und sein Mund war wegen seiner hohen Atemfrequenz wie ausgetrocknet. Seine Oberschenkel glühten wie Feuer und sein Herz pumpte mit über 180 Schlägen pro Minute Blut durch seinen mit Endorphinen überschwemmten Körper. Sein Puls hämmerte gnadenlos hinter seinen Schläfen und die schweren, kalten Tropfen des herabprasselnden Regens vermischten sich mit seinem Schweiß zu einem Gemisch, das in Strömen über sein Gesicht lief.

Der Wolkenbruch, der vor etwa einer Stunde das Tal wie ein ausgehungertes Raubtier überfallen hatte, tauchte die Berghänge in ein konturloses, milchiges Grau. Der schmale Bergpfad unter seinen Schuhen, aus welchen das Wasser bei jedem Schritt herausschmatzte, war kaum zu erkennen. Die Luft war hier auf fast eintausendsechshundert Meter über Meereshöhe für einen August ungewöhnlich kalt und tiefhängende, zerfetzte Regenwolken umwoben die felsigen Gipfel der umliegenden Berge wie ruhelose Gespenster ihre Grabstätten.

Aber weder Kälte noch Nässe drangen richtig in sein Bewusstsein vor. Er bewegte sich mittlerweile wie in einem Tunnel und hatte diesen meditativen Zustand erreicht, wo Geist und Körper beginnen, sich voneinander zu lösen. Seine Wahrnehmung schwebte mit eigenartiger Leichtigkeit etwas über ihm und betrachtete mit fast distanziertem Interesse dieses einen Meter neunzig große Kraftpaket aus Muskeln und Sehnen unter ihm, das sich wie eine perfekte Maschine allem Unbill zum Trotz unaufhaltsam weiter den Berg hinaufarbeitete.

So wie ein Zuschauer im Kino verfolgte er den Kampf dieses dampfenden Körpers, sah ihn keuchend über einen Felsabsatz springen und erschrak fast, als er plötzlich wie festgefroren stehen blieb. Wie von einem unwiderstehlichen Riesenmagneten angezogen, zwang es ihn in diesen Körper zurück, in einem fast schmerzhaft hellen Aufblitzen wurden sein Körper und sein Geist wieder eins. Dann starrte er auf etwas, das es hier oben am Berg eigentlich nicht geben durfte. Das Kinoprogramm hatte gewechselt und auf eigenartige Weise war er in einer Szene von John Ronald R. Tolkiens Herrn der Ringe gelandet.

Vor ihm saß: Gollum!

Tropfnass, wie von wabernden Nebeln aus Mordor umzogen, hockte der, zusammengekauert und die dürren Arme um seinen eigenen Oberkörper geschlungen, unter einer überhängenden Felswand, wo er notdürftig Schutz vor dem prasselnden Regen gesucht hatte und starrte ihn mit riesengroßen Augen an. Entsetzen spiegelte sich auf seinem Gesicht, so als wäre Michael der Herr der Nazgul und im Begriff, ihn vor Sauron zu schleppen.

Irgendwie war das alles nicht real. Vor Anstrengung noch heftig keuchend wischte er sich mit einer Hand über seine brennenden Augen, kniff sie kurz zusammen und riss sie dann wieder weit auf. Aber alles blieb, wie es war. Gollum war immer noch da.

In diesem Augenblick hatte die Achterbahn der Gefühle, die ihn schon während der letzten zehn Monate ständig von oben nach unten katapultiert hatte, einen weiteren skurrilen Höhepunkt erreicht.

Vor gut drei Jahren hatte er kurz entschlossen sein Architekturstudium auf Eis gelegt, um alles auf die Karte Leistungssport zu setzen. Der dreiundzwanzigjährige Student hatte ohne Wenn und Aber alles seiner großen Leidenschaft, dem Triathlon untergeordnet. Lange Zeit hatte es nicht so ausgesehen, als ob sich diese Entscheidung wirklich auszahlen würde, aber im vergangenen Jahr war der Achterbahnwagen endlich ganz oben angekommen. Nach monatelangem, knochenhartem Wintertraining waren seine Leistungen in der abgelaufenen Saison regelrecht explodiert und er hatte nach dem Punktesystem der World Triathlon Corporation endlich die ersehnte Qualifikation für den legendären Ironman auf Hawaii geschafft. Wie besessen hatte er daraufhin begonnen, auf ein einziges Ziel hin zu trainieren. Er wollte die 3,8 km Schwimmen, 180 km Radfahren und den abschließenden Marathonlauf durch die Lavafelder von Kona mit einem Spitzenplatz absolvieren und sich damit in der Liste der sogenannten Eisenmänner verewigen.

Aber der Achterbahnwagen tat das, wofür ein Achterbahnwagen gebaut ist. Er war von ganz oben mit Karacho nach ganz unten gerast. Noch im Herbsttraining war er auf seiner Rennmaschine von einem Geländewagen auf die Hörner genommen worden, dessen Fahrer seinem Handy mehr Aufmerksamkeit als der Straße gewidmet hatte. Mit einem kaputten Sprunggelenk und fünf gebrochenen Rippen war wochenlang an kein ernsthaftes Training mehr zu denken gewesen. Trotzdem hatte er sich mit eiserner Disziplin zurückgekämpft und bereits im März wieder eine beachtenswerte Form gehabt.

Der Schlitten war wieder oben gewesen und Michael hatte motiviert wie nie seinen Trainingsplan weiter durchgezogen. Für Juli stand der Wettkampf in Roth auf dem Plan, dessen Weltklassefeld ihm zeigen würde, wo er wirklich stand. Aber bevor er es überhaupt bemerkt hatte, war der Wagen schon wieder rasant nach unten geschossen. Genau sechs Wochen vor Roth war er nach einer langen Rennradeinheit spät abends nach Hause gekommen, wo seine derzeitige Freundin Conny ziemlich angefressen in der gemeinsamen kleinen Wohnung saß.

„Hallo Maus, du machst ja ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Was ist denn passiert?“, hatte er sie überrascht gefragt und nur eine kopfschüttelnde Antwort geerntet.

„Bis vor drei Stunden hatte ich eigentlich vor, mit dir ins Kino zu gehen und dann den Abend … besonders ausklingen zu lassen.“

„Ah, tut mir echt leid! Das mit dem Kino habe ich irgendwie völlig verpennt, aber der Abend ist ja noch nicht vorbei, oder?“, hatte er mit einem charmanten Grinsen und einem funkelnden Blick seiner türkisblauen Augen versucht, die Stimmung zu retten.

„Du kapierst es echt nicht, oder?“

„Was? Was kapiere ich nicht?“, wieder hatte sie resigniert den Kopf geschüttelt.

„Nichts gegen Sport, Michael! Aber dieser Sport frisst dich mit Haut und Haaren und du merkst das überhaupt nicht!“

Damit hatte sie seinen wunden Punkt getroffen und sofort stellten sich seine Stacheln auf.

„Darüber haben wir doch schon zigmal geredet. Du hast genau gewusst, worauf du dich einlässt! Ich war schon Triathlet, als du mich kennengelernt hast und früher hast du das auch mal ganz toll gefunden!“

„Ja, aber da gab es neben dem Triathlon auch noch andere Dinge in unserem Leben. Aber seit du dich auf diesen Scheiß-Ironman vorbereitest, nimmst du die Menschen um dich herum praktisch überhaupt nicht mehr wahr!“

„Blödsinn, das stimmt überhaupt nicht, ich …“

„Welchen Tag haben wir heute?“

Irritiert hatte er gezögert.

„Donnerstag. Was hat das mit meinem Sport zu tun?“

Connys trauriges Lächeln war schwer zu deuten gewesen.

„Genau das ist es Michael! Mit deinem Sport hat das nichts zu tun, aber mit uns! Genau heute vor einem Jahr haben wir uns kennen gelernt. Heute wäre unser Jahrestag gewesen!“

Er hatte betreten geschwiegen.

„Ich kann das nicht mehr, Michael! Ich kann nicht mit einem Menschen zusammenleben, dem das Tretlager seines Rennrades wichtiger ist als die Menschen neben ihm.“

Sie hatte ihn noch einmal kurz umarmt, wortlos zwei fertig gepackte Koffer aus dem Schlafzimmer geholt und war aus seinem Leben verschwunden. Er hatte danach nur die Tür angestarrt, die hinter ihr ins Schloss gefallen war und sich wie ein Gefangener in einer Zeitschleife gefühlt: Diese Szene hatte er nicht zum ersten Mal erlebt. Auch seine vorhergegangenen Beziehungen hatten praktisch genauso geendet, weil keine seiner Freundinnen verstanden hatte, dass Profi-Triathlet kein Teilzeitjob war. Er liebte Frauen, wirklich. Gutaussehende allemal! Aber er würde für kein weibliches Wesen dieser Erde seinen Sport opfern und wenn sie das nicht kapierten, dann sollten sie ihm alle zusammen den Buckel runterrutschen.

Die nächsten Wochen hatte er dann eigenartig gefühlstot und fast roboterhaft weiter sein Training abgespult. Trotzdem, oder auch vielleicht gerade deshalb hatte er in Roth einen erstklassigen Wettkampf abgeliefert.

Nach der Siegerehrung hatten ihn zunächst reichlich Alkohol und dann eine heiße australische Triathletin über sein neues Single-Dasein hinweggetröstet. Drei Tage später war ihm eines klar gewesen: Er brauchte Abstand! Abstand von zu Hause, wo ihn noch alles an Conny erinnerte und Abstand von sich selbst, um sich ungestört auf Hawaii vorbereiten zu können.

Also hatte er kurzerhand seine Sachen gepackt, sich von seinen Eltern und seinen beiden Schwestern verabschiedet, und war vom heimatlichen Oberbayern nach Cannobio am italienischen Westufer des Lago Maggiore umgezogen. Sein enger Freund Marcel Scolli, der gleichzeitig sein Physiotherapeut war, arbeitete in einer Sportklinik in Locarno und hatte hier eine Wohnung, die Michael schon öfter für Trainingsaufenthalte genutzt hatte. Hier wollte er Conny vergessen und gleichzeitig in die letzte Trainingsphase vor Hawaii, das sogenannte Tapern einsteigen. Tapern heißt, die normalerweise enormen Zeitumfänge des Triathlontrainings schrittweise zu reduzieren, die Erholungsphasen auszudehnen, aber weiterhin sehr intensive Trainingsspitzen zu setzen.

Und genau das tat er, als er an diesem Abend im Wolkenbruch die Nordhänge des über zweitausend Meter hohen Monte Zeda hinaufjagte. Er hatte heute tagsüber einen Termin bei Marcel in Locarno wahrgenommen, aber abends unbedingt noch eine zusätzliche Trainingseinheit einschieben wollen. Ganz spontan hatte er seine Stirnlampe eingepackt und war von Falmenta aus zu einer abendlichen Laufeinheit in Richtung Gipfel gestartet.

Und jetzt stand er hier im strömenden Regen vor Gollum und wartete darauf, dass er aufwachen und neben Conny in seinem warmen Bett liegen würde. Doch dieser plötzlich aus seiner Erstarrung erwachende Gollum ließ alles auf skurrile Weise real werden. Er sprang auf und versuchte geradezu panisch vor ihm wegzulaufen, strauchelte aber sogleich und griff mit schmerzverzerrtem Gesicht an seinen linken Knöchel.

„He, ganz ruhig, alles gut! Ich tue dir nichts! Keine Angst!“

Immer noch schwer um Atem ringend, trat Michael einen Schritt auf das am Boden kauernde Geschöpf zu. Dieses hob sofort in einer Abwehrreaktion die Arme vors Gesicht und verharrte reglos.

„Fehlt dir etwas? Hast du dir wehgetan? Kann ich dir helfen?“

Ganz automatisch sprach er deutsch und nicht italienisch.

Langsam sanken die Arme wieder und Michael bot sich im schwindenden Licht des ausklingenden Tages die Möglichkeit, sein Gegenüber etwas eingehender zu betrachten.

Gollum war mit ziemlicher Sicherheit eine entsetzlich abgemagerte Frau.

Eher jung, nicht so einfach zu sagen, um die zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt vielleicht, und Michael konnte sich nicht erinnern, jemals einen erbarmungswürdigeren Anblick gesehen zu haben.

Aus ihren extrem kurz geschorenen blonden Haaren liefen Rinnsale von Regenwasser in ihr Gesicht. Fast pergamentartig dünne Haut spannte sich über ihre hohen, erschreckend eingefallenen Wangen, wodurch ihr Mund breit und groß wirkte. Das auffallendste aber waren die Augen. Riesengroß, mit langen Wimpern starrten sie Michael wie von innen beleuchtet an, und trotz der hereinbrechenden Dunkelheit konnte er sehen, dass sie von einem eigenartig intensiven Blauton waren.

„Es wird dunkel!“

Eine leise, aber überraschend weiche und angenehme Stimme brachte nur diesen einen, ebenfalls deutschen, aber nicht gerade geistreichen Satz heraus.

„Stimmt, seit die Erde vor einigen Milliarden Jahren beschlossen hat, sich um die eigene Achse zu drehen, wird es abends dunkel. Das ist wohl so!“

„Ich kann hier nicht bleiben, wenn es dunkel wird.“

Michael war schon im Begriff, erneut mit einer spöttischen Bemerkung zu antworten, aber irgendetwas im durchdringenden Blick dieser großen, klaren Augen veranlasste ihn, seinen Kommentar hinunterzuschlucken. Panik! Das war nackte Panik, die darin zu lesen war. Panik vor der Dunkelheit, aber sicher zum Teil auch vor ihm. Ganz behutsam, um sie nicht erneut zu erschrecken, trat er wieder einen Schritt näher und streckte ihr vorsichtig seinen Arm entgegen.

„Dann steh auf, lass uns schauen, dass wir vom Berg herunterkommen! Ich bin hier schon oft gelaufen und kenne den Weg ziemlich gut. Wenn wir uns ranhalten, können wir in zwei Stunden in Falmenta sein. Dort steht mein Auto. Von wo kommst du denn her und was machst du um diese Zeit hier oben?“

Es arbeitete in ihr. Das sah Michael genau. Widersprüchlichste Gefühle spiegelten sich in diesem fast surreal wirkenden Gesicht. Einerseits Angst vor ihm, andererseits die Hoffnung auf Hilfe. Einerseits die Scheu vor Kontakt, andererseits die Panik vor der Dunkelheit. Sie starrte ihn weiter an, öffnete ihren Mund und setzte scheinbar zu einer Antwort an. Doch dann schloss sie ihn wieder und senkte nur stumm ihren Kopf.

Kalte Regentropfen prasselten auf Michaels Rücken, während er still seinen Entschluss verfluchte, heute noch auf diesen dämlichen Berg zu rennen. Er hatte kurzzeitig überlegt, seine Standardstrecke am See entlang zu laufen. Hätte er das getan, dann säße er jetzt vermutlich schon wieder gemütlich daheim in seiner Wohnung. Stattdessen hatte er jetzt eine offenbar etwas minderbemittelte Schreckgestalt am Hals, die er aber in diesem Zustand keinesfalls hier sitzen lassen konnte. Sie war völlig durchgefroren und schlotterte am ganzen dürren Körper. Sie musste runter von diesem Berg, und zwar schleunigst. Er startete einen zweiten Versuch.

„Na los! Steh auf, dann machen wir uns gemeinsam auf den Weg nach unten! Du gehörst ins Warme, wenn du dir hier nicht den Tod holen willst!“

Sie hob wieder ihren Kopf und erstaunlicherweise war sie tatsächlich in der Lage, einen ganzen Satz zu bilden.

„Ich kann nicht mehr richtig gehen, ich habe mir den Fuß verletzt.“

„Jetzt gerade? Bei dem läppischen Sturz?“

„Nein, schon vorher. Ich bin ausgerutscht und habe es richtig krachen hören. Ich kann nicht mehr auftreten. Ich glaube der Knöchel ist gebrochen! Ich kann aber nicht hierbleiben. Nicht wenn es dunkel wird!“

Na super! Weltklasse! Kein gemütlicher Abend mehr, sondern ein echter Fall von Bergnot!

Er ging in die Knie und hockte sich neben sie.

„Darf ich mir den Fuß mal anschauen? Ich verstehe ein bisschen was davon!“

Sie zuckte sofort zurück, als er seine Hand nach ihrem Bein ausstreckte. Der Regen wurde immer heftiger, allmählich begann Michael, das Ganze wirklich zu nerven.

„Also hör mal zu! Ich bin kein Voodoo-Zauberer mit telepathischen Fähigkeiten. Wenn ich dir helfen soll, musst du mir den Fuß schon zeigen!“

Die Angst und ihr Verstand trugen ganz offensichtlich einen heftigen Kampf in ihr aus. Es siegte der Verstand. Sie krempelte ihre patschnasse Jeans ein wenig hoch und streckte ihm langsam ihren Fuß entgegen. Er erschrak, als er vorsichtig ihre Fessel umfasste. Erstens weil ihr Unterschenkel so entsetzlich mager war und praktisch nur aus Haut und Knochen bestand. Zweitens, weil er durch die papierdünne Haut auf der geschwollenen Knöchelaußenseite ziemlich rasch den eindeutig gebrochenen Wadenbeinkopf tasten konnte.

„Okay, ich fürchte, du hast Recht! Der ist wirklich gebrochen. Das wird jetzt tatsächlich ein bisschen schwieriger werden.“

Oh Mann! Damit war die heutige Trainingseinheit endgültig erledigt, und während seine Konkurrenten wahrscheinlich gerade aktive Regenerationsmaßnahmen durchzogen, hockte er hier im Regen bei dieser Schreckschraube. Aber was blieb ihm übrig?

Er dachte kurz nach und ging im Kopf die verschiedenen Möglichkeiten durch.

Sogar wenn er ein Handy dabeigehabt hätte, wäre es nutzlos gewesen, weil er auf Grund früherer Touren schon wusste, dass sie sich hier in einem Funkloch befanden.

Drei Möglichkeiten blieben offen: Erstens, sie hier warten lassen und alleine so schnell wie möglich Hilfe herbeiholen. Würde bedeuten … er überschlug rasch im Kopf. Eine knappe Stunde runter, Hilfe rufen, Helikopter auf die Lichtung bei Mazzarocco … nein! Ein Heli flog in der Nacht sicher nicht mehr, Bockmist! Also: Hilfsmannschaft anfordern, etwa eine Stunde. Aufstieg, weitere zwei Stunden. Sie müsste also mindestens vier bis fünf Stunden hier warten!

Zweitens könnte er versuchen, sie runterzutragen. Dürr wie sie war, hätte er sich das schon zugetraut, aber im Regen und in der Dunkelheit?

Drittens, das Bivacco Alpe Forna!

Biwakschachteln sind Notunterkünfte, die überall in den Alpen angelegt wurden, um Bergsteigern Übernachtungsplätze in Notsituationen anzubieten. Keine fünfzig Höhenmeter über ihnen befand sich eine solche. Michael kannte den kleinen Unterschlupf von früheren Touren: Eine Steinhütte circa drei mal drei Meter groß, eine Holzpritsche, wenn sie Glück hatten, ein paar alte Militärdecken. Er wandte sich wieder an das Mädchen, das immer noch bekümmert auf ihren Fuß starrte.

„Hör zu! Ich könnte Hilfe holen …“

„Nein!“, regelrecht entsetzt schüttelte sie den Kopf.

„Bitte, ich kann nicht alleine hierbleiben, nicht im Dunkeln!“

„Keine Panik! Ich habe den Gedanken selber schon wieder aufgegeben. Kennst du das Bivacco, knapp oberhalb von hier?“

Er erntete ein zögerndes Kopfnicken.

„Gut! Glaubst du, du schaffst es bis da hinauf, wenn ich dir helfe?“

Sie blickte ihn verständnislos an.

„Ja hallo, schau nicht so entsetzt! Hierbleiben willst du nicht, runtergehen kannst du nicht. Bleibt also nur eines: rauf ins Biwak und übernachten. Jetzt komm schon, los! Ich bin übrigens Michael und wie heißt du? Wir sollten zumindest unsere Namen kennen, wenn wir schon die Nacht zusammen verbringen werden“, meinte er mit einem sarkastischen Lachen.

Patrizia Bertram hatte offenbar eine fast manische Berührungsangst. Nachdem er ihr auf die Beine geholfen hatte, war er zunächst überrascht, wie groß sie war, nur ungefähr zehn Zentimeter kleiner als er selbst. Dann diskutierte er im strömenden Regen weitere sinnlose fünf Minuten mit ihr, weil sie sich partout nicht von ihm tragen lassen wollte. Mittlerweile war er ausgekühlt und tropfnass. Ihn fröstelte und er hatte richtig Angst, sich eine Erkältung einzufangen. Hawaii wäre damit definitiv gestorben. Irgendwann wurde es ihm zu bunt.

„Hör zu, Patrizia! Ich habe keine Lust, mir hier draußen einen abzufrieren. Entweder du lässt dich jetzt von mir da rauf tragen, oder ich haue wieder ab und schicke dir die Bergrettung! Ich habe die Faxen jetzt allmählich dicke!“

Die Angst vor der Dunkelheit war anscheinend größer als vor ihm. Sie zitterte allerdings am ganzen Körper, als er sie huckepack nahm. Ob vor Kälte oder vor lauter Panik konnte Michael nicht sagen, es war ihm in diesem Moment aber auch egal. Er wollte nur rauf und raus aus dem eiskalten Regen und den schneidenden Windböen. Zwanzig Minuten später hatten sie im letzten schwindenden Tageslicht die kleine Hütte erreicht. Er setzte Patrizia vorsichtig vor der Tür ab, öffnete diese und trat ein. Er holte die Stirnlampe, die er für den Abstieg dabeihatte, aus seiner Trikottasche und blickte sich in dem kleinen Raum um.

Links hinten an der Wand stand ein kleines Holzregal vor nackten Natursteinwänden, davor ein kleines Tischchen mit einem klapprigen Holzstuhl, dessen Sitzfläche mit altem Stroh bespannt war. Den größten Teil des kleinen Raumes nahm eine Art Holzpritsche ein, ungefähr einsfünfzig mal zwei Meter groß, auf der – Gott sei Dank – ein paar alte, graue Militärdecken lagen. Michael atmete auf.

„Hereinspaziert, so wie es aussieht, können wir es uns hier einigermaßen gemütlich machen.“

Patrizia hüpfte gerade auf einem Bein zur Tür herein und die Veränderung, die mit ihr vor sich ging, als sie seine Stirnlampe sah, war verblüffend!

„Eine Lampe, du hast ja eine Lampe! Reicht die Batterie? Glaubst du, du kannst sie die Nacht über brennen lassen?“

Spätestens da wurde Michael Stadler klar, dass die Ängste dieses merkwürdigen Mädchens weit über das normale Maß hinausgingen.

Unterschiedlichste Gefühle rangen in Patrizia Bertram miteinander. Natürlich war sie erleichtert, dass sie nicht mehr draußen im Regen saß und ihr eine Nacht in der Finsternis erspart blieb. Andererseits sah sie der Nacht mit einem wildfremden Mann, eingepfercht auf engstem Raum, mit mehr als gemischten Gefühlen entgegen. Sie war seit Jahren nicht mehr mit einem Fremden in einem Raum alleine gewesen, von einer gemeinsamen Nacht ganz zu schweigen.

Aber wie sie die Situation auch hin und her drehte, sie hatte offenbar nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder ganz alleine in der Dunkelheit draußen bleiben, oder eben seine Hilfe annehmen. Krampfhaft versuchte sie, die aufkommende Panik zu unterdrücken, als sie sah, wie Michael einen Energieriegel und eine kleine Trinkflasche aus seinem Trikot zog und sich dieses anschließend über den Kopf streifte. Danach stieg er aus seiner Sporthose.

„Was …, was tust du da?“

„Ich schaue zu, dass ich aus den nassen Sachen rauskomme und an deiner Stelle würde ich schleunigst das Gleiche tun, wenn du dir hier nicht den Tod holen willst.“

Ihre großen Gollum-Augen weiteten sich entsetzt.

„Nein, ich kann nicht …“

„Jetzt stell dich nicht so an! Du brauchst wirklich absolut keine Angst vor mir zu haben! Erstens würde ich eine solche Situation sowieso nie ausnutzen und zweitens“, er zwinkerte ihr zu, „bist du mir viel zu mager!“

Als sie ihn weiter nur regungslos anstarrte, wurde er deutlicher.

„Du pass auf! Ich gehe jetzt für genau zwei Minuten nochmal da raus und lass dich alleine zum Umziehen. Dann komme ich wieder rein und es ist deine Entscheidung, ob du die Nacht nass oder trocken verbringen willst! Mir ist das egal!“

Fünf Minuten später saßen sie beide in die kratzigen aber warmen Decken gewickelt am Tischchen und ihre nassen Klamotten hingen zum Trocknen über dem kleinen Wandregal. Diese Situation konnte es eigentlich gar nicht geben. Normalerweise hätte sie sich von Angstzuständen geplagt in eine Ecke verkriechen müssen, aber dieser Michael Stadler hatte eine irritierende Art und Weise, seinen Kopf durchzusetzen. Ziemlich nachdrücklich, mit einem flapsigen Spruch, eine Alternative anbietend, die im Grunde keine war und ehe sie sich versah, hatte sie gemacht, was er wollte. Außerdem konnte er gnadenlos pragmatisch sein, wie auch seine nächste Frage bewies: „Hast du noch etwas zum Trinken in deinem Rucksack oder etwas zum Essen? Mein Beitrag zum Dinner beschränkt sich auf einen Energieriegel!“

Patrizia besaß genau ein feuchtes Toastsandwich und einen Rest Wasser.

Michael füllte die Flasche mit Regenwasser auf und anschließend teilten sie sich im schwachen Licht der Stirnlampe Energieriegel und Toast.

„Na ja, das Ritz ist es nicht gerade, aber wir könnten es auch schlechter haben.“, meinte er.

„Riesenglück, das die Decken da waren, ist nicht selbstverständlich. Wie geht’s deinem Fuß? Arge Schmerzen?“

Sie schüttelte fast zaghaft ihren Kopf.

„Geht schon!“

„Wir sollten ihn kühlen! Lass mich mal machen!“

Ehe sie groß widersprechen konnte, hatte er sein ohnehin schon nasses Trikot mit frischem Regenwasser getränkt und ihr vorsichtig einen Wickel um ihren Knöchel angelegt, den er anschließend auf seinem Knie hoch lagerte, während er gleichzeitig sanft ihre kalten Zehen massierte.

„So, mehr können wir im Augenblick leider nicht tun. Was hat dich eigentlich bei diesem Wetter auf den Zeda getrieben?“

Patrizia starrte wie paralysiert auf seine Hände an ihrem Fuß, aber aus Gründen, die ihr selber nicht ganz klar waren, ließ sie ihn gewähren und sah ihm zögernd ins Gesicht. Sie hatte überhaupt keine Routine im Plaudern, sie hatte eigentlich schon seit ewigen Zeiten nicht mehr richtig geredet und schon gar nicht über sich selbst. Aber er hatte ziemlich selbstlos ihre Haut gerettet und damit wohl auch ein Recht auf eine Antwort.

„Ich wohne zurzeit in Cannobio und irgendwie hatte ich heute die spontane Schnapsidee, das tolle Wetter für eine Bergtour auszunutzen, um auf andere Gedanken zu kommen. Ist aber alles ziemlich schiefgelaufen. Wettersturz, Fuß vertreten und den Rest kennst du ja.“

Sie hatte keine Lust, über sich selbst zu reden, und versuchte einen Themenwechsel.

„Und du? Wieso bist du so spät noch Richtung Gipfel unterwegs gewesen?“

„Abendliche Trainingstour.“

„Training wofür?“

Das braungebrannte Gesicht unter den zerzausten blonden Haaren verzog sich zu einem Grinsen, das sie unwillkürlich an einen kleinen Lausbuben erinnerte, der irgendeinen Streich ausheckt.

„Keine Chance, Bohnenstange! Sagst du mir nix, sage ich dir auch nix! Wenn du etwas über mich und mein Training wissen willst, musst du mir schon ein bisschen mehr von dir erzählen. Ich habe zuerst gefragt!“

Patrizia zögerte: „Was willst du denn wissen?“

„Ach da gibt es so einiges. Warum auf andere Gedanken kommen? Warum eine Bergtour? Warum bist du so ein Strich in der Landschaft und warum diese Panik vor der Dunkelheit?“

Seine Direktheit ließ sie erstaunt aufblicken und ihre heftige Antwort überraschte sie selbst. Wenn sie in letzter Zeit überhaupt mit jemand gesprochen hatte, dann waren es sicher keine Streitgespräche gewesen.

„Also bitte! Ich bin im Chiemgau aufgewachsen und deshalb früher auch oft in den Bergen unterwegs gewesen. Und meine Gedanken und mein Gewicht gehen dich gar nichts an. Du bist ja schlimmer als mein Therapeut!“

„Aha, das wird ja immer interessanter! Was für ein Therapeut?“

„Vergiss es! Training wofür?“

„Triathlon! Was für ein Therapeut?“

„Geht dich gar nichts an, ist sowieso lange vorbei! Welcher Triathlon?“

„Ironman Hawaii! Na ja, was solls. Geht mich vielleicht ja wirklich nichts an. In jedem Fall war eine so lange Tour in deiner körperlichen Verfassung ganz schön bescheuert. Bohnenstange!“

Das war ja wohl die Höhe!

„Nicht mehr bescheuert als Training im strömenden Regen auf einem glitschigen Bergpfad! Ein Sturz oder eine Erkältung und du kannst deinen Triathlon vergessen. Und nenn mich bitte nicht Bohnenstange!“

„Ach komm, das passt irgendwie zu dir und ist allemal besser als Gollum!“

„Gollum?“, fragte Patrizia ungläubig.

„Na du hättest dich selbst sehen sollen, wie du da im Regen gehockt bist mit deinen riesengroßen Augen …“

Sie blies kopfschüttelnd die Luft aus den Backen.

„Dein Charme ist ja der Wahnsinn, Eisenmann. Hattest du jemals eine Freundin?“

Das leicht zynische Lausbubengrinsen erschien wieder auf seinem Gesicht.

„Alle paar Monate eine neue!“

„Wundert mich kein bisschen. Länger hat’s wohl keine bei dir ausgehalten, oder?“

„Gut pariert, Bohnenstange.“ Michael lachte. Sein Plan war aufgegangen und er hatte sie soweit aus der Reserve gelockt, dass sie sich nicht mehr jedes Wort aus der Nase ziehen ließ. Eigentlich hatte er die Hoffnung auf eine Unterhaltung mit diesem rätselhaften Geschöpf schon aufgegeben, aber überraschenderweise besaß sie sogar so etwas wie Temperament.

„Was weißt du über Training und Eisenmänner, Trish?“

„Trish?“, Patrizia stöhnte auf „dann lieber doch Gollum!“

Aber irgendwie war der Bann gebrochen und sie redete weiter.

„Ob du’s glaubst oder nicht, ich war selber mal Sportlerin und um zu wissen, dass die Teilnehmer am Ironman Eisenmänner heißen, muss man ja wirklich kein Sportjournalist sein! Aber Respekt, du bist wirklich für Hawaii qualifiziert? Altersklasse oder etwa gar Profis?“

Sie überraschte Michael. Nicht viele wussten, dass die Startplätze für Hawaii sehr begrenzt und nicht leicht zu bekommen waren und noch viel weniger kannten den Einteilungsmodus in die Altersklassen und die Profis.

„Ich starte bei den Profis. Du bist ja gut informiert. Welchen Sport hast du denn getrieben und warum hast du aufgehört?“

„Biathlon …“

Und plötzlich waren sie in ein Gespräch über Biathlon und Triathlon, Training und Wettkampf vertieft. Über ihre eigene Person verlor Patrizia Bertram dabei allerdings kaum ein Wort!

Zwei Stunden später lag sie eingewickelt in die alte Wolldecke auf der kleinen Holzpritsche und starrte in die Schatten, die das schwache Licht der Stirnlampe an die Wände warf. Sie hörte die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge des Mannes neben sich, spürte die Wärme seines Körpers, die ihr erstaunlicherweise nicht unangenehm war und konnte es immer noch nicht fassen, dass sie hier neben ihm auf einer schmalen Holzpritsche lag.

Ehrlich gesagt hatte sie seit zwei Jahren kein so normales Gespräch mehr geführt, die Zeit war wie im Flug vergangen. Sie fühlte sich merkwürdig ruhig in seiner Nähe, die Dämonen, die sie sonst nachts heimsuchten, schwiegen heute. Eigenartig, vielleicht würde sie sogar ein bisschen schlafen können …

… als sie erwachte, war die Pritsche neben ihr leer. Die Tür stand einen Spalt breit offen und ein schwacher Lichtstrahl fiel herein. Es dämmerte bereits der Morgen. Der Mann, den sie erst seit gestern kannte, war weg! Hatte er sie jetzt doch alleine gelassen? Ruckartig sprang sie auf, doch der stechende Schmerz in ihrem linken Knöchel erinnerte sie sofort an ihre Verletzung.

Sie zog ihre immer noch klammen Sachen an und humpelte vorsichtig zur Tür. Draußen tastete sie sich an der Steinwand entlang um die Hütte herum. Michael Stadler saß ein paar Meter entfernt auf einem Felsblock und sah bewegungslos geradewegs nach Osten. Hinter dem zackigen Felsgrat des Monte Vada war das erste goldgelbe Licht des nahenden Sonnenaufgangs zu sehen. Im Tal hingen tiefe Nebelbänke, doch darüber dehnte sich ein wolkenloser fahlblauer Himmel über die ganze Breite des Horizonts. Unzählige Vogelstimmen schickten sich bereits an, diesen perfekten Sommermorgen zu begrüßen. Sie biss die Zähne zusammen, ignorierte den Schmerz in ihrem Knöchel und humpelte einige Schritte auf Michael zu.

„Guten Morgen, ich …“

„… Schscht!“, flüsterte er nur, rückte ein wenig zur Seite und klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich. Patrizia ließ ihren Blick in Richtung des erwachenden Tages schweifen und setzte sich widerspruchslos in seine Nähe. So saßen sie schweigend etwa fünf Minuten, als urplötzlich mit einem goldenen Aufblitzen der erste Sonnenstrahl über den Horizont blinzelte. Man konnte praktisch zuschauen, wie die Morgensonne binnen weniger Minuten den Himmel in ihren Besitz nahm.

„Irgendwie hält das Leben in solchen Augenblicken kurz den Atem an und es ist, als ob man sich selbst von außen zuschaut, findest du nicht?“, fragte Michael sanft.

„Moments of Excellence nennen die Psychologen das. Momente, die man einfach auf seiner mentalen Festplatte abspeichern muss, um sie später jederzeit wieder abrufen zu können.“

Dann schwiegen beide wieder. Irgendwann erklang die Stimme des mysteriösen Mädchens neben ihm in einem fast schüchternen Flüstern.

„Die Summe dieser Momente ist es wohl, die irgendwann unser Leben reich macht!“

Michael wandte ihr überrascht seinen Kopf zu. Sie hatte genau verstanden, was er ausdrücken wollte. Dann blickte er zum ersten Mal bei Tageslicht in ihre Augen und fiel förmlich in einen glasklaren Strudel von endloser Tiefe.

Beide hielten inne, und die Zeit schien stehen zu bleiben. Es war verrückt und merkwürdig, aber auf eigenartige Weise vertraut. Jeder schaute in seine eigenen Augen: Ein klares Türkis mit tiefblauen Rändern, lagunenblau hätte man es nennen können.

Sie hatten beide exakt dieselbe Augenfarbe.

Die tote Zeugin

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