Читать книгу Die tote Zeugin - Georg Kustermann - Страница 23
Düsseldorf , 5. September
ОглавлениеDas konnte nicht sein! Wieso hatte in der ganzen gottverdammten Finanzwelt, in all den schlauen Börsenzeitungen und den endlos vielen digitalen Finanzforen niemand etwas davon gewusst? Wieso hatte kein Aas eine Ahnung davon gehabt, dass Gil Everett, berühmt-berüchtigter Manager an der Wall Street und Verwalter eines der finanzkräftigsten Hedge-Fonds der ganzen USA, Wandelanleihen auf die HealCancer-Corporation gehalten hatte? Und zwar verflucht viele Wandelanleihen, nämlich exakt so viele, wie die Stammgesellschaft selbst noch Aktien besessen hatte.
Carsten Winhold starrte mit rotgeränderten Augen auf den Bildschirm, über den gerade der News-Ticker seiner Brokerage-Seite lief. Er ließ den Kopf aufstöhnend in seine Handflächen fallen und zog die Hände langsam über seine Augen und Wangen wieder herunter. Noch vor wenigen Wochen hatte er es für seinen absoluten Geniestreich gehalten, auf fallende Kurse dieses US-amerikanischen Pharma-Unternehmens zu setzen und sein gesamtes restliches Kapital in Forwards dieser Aktien investiert.
Er hatte aus Insiderkreisen vernommen, dass die Food and Drug Administration, die amerikanische Behörde für die Zulassung neuer Medikamente, kurz davor stand, den Zulassungsantrag für das neue Krebsmedikament des Konzerns abzulehnen. Was das bedeutet hätte, war klar. Wegen des vielversprechenden Patents war der momentane Aktienkurs der Firma noch akzeptabel, aber anderseits war die HealCancer bereits hoch verschuldet und hätte eine weitere Wartezeit auf die Zulassung sicher nur schwerlich überlebt. Neue Geldgeber waren nicht in Sicht, also würde der Kurs des Papiers über kurz oder lang in den Keller rasseln.
Mit diesem Wissen hatte Carsten Winhold mit einer Bostoner Finanzgruppe ein vielversprechendes Termingeschäft abgeschlossen. Er hatte in mehrfacher Höhe seiner gegenwärtigen Liquiditätsreserven Leerverkäufe über HealCancer-Aktien getätigt, in der Hoffnung, dass er zum Fälligkeitstermin diese Aktien für einen Bruchteil des derzeitigen Kurses würde liefern können. Er hatte eine reelle Chance gesehen, dadurch sein Kapital zu vervielfachen.
Und jetzt, zwei Wochen vor der Fälligkeit seiner Forwards, hatte eben jener Gil Everett das verbriefte Recht seiner Wandelanleihen ausgeübt und Schuldverschreibungen in Höhe von einundfünfzig Prozent des Stammkapitals wieder in Aktien gewandelt. Der Kurs der Aktie hatte sich daraufhin binnen kurzer Zeit verdreifacht, was gut für Gil Everett war, und die HealCancer-Corporation war einen Großteil ihrer Schuldverpflichtungen losgeworden. Damit hatte sie zudem Zeit für einen neuen Anlauf zur Zulassung gewonnen, was den Kurs der Aktie unaufhaltsam weiter nach oben treiben würde. Für Carsten Winhold bedeutete das, dass er die zum Termin fälligen Aktien nie und nimmer würde liefern können oder um es drastischer zu formulieren, er war schlicht und ergreifend am Arsch! Aus! Ende! Er war pleite und auf unabsehbare Zeit an amerikanische Finanzhaie verschuldet.
Er stand auf, ging zu der kleinen Wandbar in seinem Büro, von welchem aus er weite Teile der Düsseldorfer Innenstadt überblicken konnte, und goss sich mit zitternden Händen einen Whisky ein. Es war nicht das erste Mal in seinem Leben, das er finanziell mit dem Rücken zur Wand stand. Er hatte schon vor Jahren praktisch das gesamte Erbe seiner Eltern an der Börse verzockt und in den Folgejahren wirtschaftlich nur deshalb überlebt, weil er ein ausgesprochenes Gespür für erfolgversprechende junge Mädchen in der Modelszene gehabt hatte. Sein kurzes sarkastisches Auflachen zerriss die Stille in seinem Büro.
Er hatte als Manager von Fotomodellen deutlich mehr Talent als an der Börse und er hätte vermutlich von seinen Provisionen gut leben können. Aber die Gier nach dem richtig großen Geld hatte ihn nie losgelassen und er hatte den Bogen schon mehrmals deutlich überspannt. Er kippte das Glas hinunter und spürte die Flüssigkeit heiß seine Kehle hinunterrinnen. Er starrte an die Wand und ließ seine Gedanken weiter zurück in die Vergangenheit schweifen. Als er seinerzeit mit Theodora Unguesca liiert war, einer rassigen Rumänin, die er auch als Model unter Vertrag gehabt hatte, war ihm das Wasser dermaßen bis zum Hals gestanden, dass er unter Zeitdruck ziemlich plump einiges ihrer Modelhonorare veruntreut hatte.
Dass Theodora ihm dem Laufpass gegeben hatte, als sie ihm auf die Schliche gekommen war, hatte ihn gar nicht weiter gestört. Er hatte von ihrem überschäumenden Temperament ohnehin die Nase voll gehabt. Und auch ihre Klage hatte er dank seines ausgetüftelten Vertrages und seiner Anwälte abweisen können. Aber er hatte völlig unterschätzt, dass die heißblütige Theodora nicht der Typ war, die so etwas einfach auf sich beruhen ließ. Fast zwei Jahre später hatte sie ihm aus Rumänien eine Mahnung geschickt, die er bis heute nicht vergessen hatte.
Ihm lief es immer noch kalt den Rücken hinunter, wenn er an den riesigen Geldeintreiber dachte, den sie ihm auf den Hals gehetzt hatte. Damals war es wirklich Spitz auf Knopf gestanden. Er hatte keinen Cent mehr von ihrem Geld gehabt und wusste nicht, was man mit ihm angestellt hätte, wenn der Kerl damals nicht dermaßen auf das Poster von Steffi abgefahren wäre.
Mein Gott Steffi!
Er goss sich einen weiteren Whisky ein und plötzlich sah er sie wieder vor sich stehen. In ihren hochhackigen Schuhen und den irrsinnigen Dessous von Victoria’s Secret war sie wahrscheinlich eine der erotischsten Frauen, die er je gesehen hatte. Und er hatte in seinem Leben wahrhaftig viele Laufstegschönheiten kommen und auch wieder gehen sehen. Aber Steffis Kombination von Sinnlichkeit und Schüchternheit, mit der er sie ja auch vermarktet hatte, war einfach unvergleichlich gewesen.
Er leerte sein zweites Glas in einem Zug, aber auch das brachte sein schlechtes Gewissen nicht zum Verstummen. Wenn er daran dachte, was er ihr damals angetan hatte, dann ekelte ihm vor sich selbst. Von all den vielen Mädchen, die er mittlerweile schon betreut hatte, war sie mit Abstand die tollste Frau gewesen und das nicht nur wegen ihres atemberaubend guten Aussehens. Er hatte die Beziehung zu ihr wirklich genossen, auch wenn ihn ihr Sportfanatismus manchmal genervt hatte. Aber sie hatte eine wahnsinnig positive Lebenseinstellung gehabt und war immer loyal und zu hundert Prozent verlässlich gewesen. Den Blick aus ihren blauen Augen, der einem Mann die Luft nehmen konnte, würde er niemals vergessen.
Zum Dank dafür hatte er sie nicht nur an den Rumänen verhökert, sondern auch noch selbst denn größten Brocken ihres Lösegeldes eingesackt. Eine Million für den Geldeintreiber, dreihunderttausend für Theodora und siebenhunderttausend für sich selbst.
Die Vorstellung, dass sie der Kerl wohl eine ganze Woche lang in seinen Klauen gehabt hatte, ließ auch heute noch Übelkeit in ihm hochsteigen. Es war sowieso unerklärlich gewesen, dass sie das Ganze überlebt hatte, aber das, was der Knochenbrecher von ihr übrig gelassen hatte, konnte man auch nicht wirklich als lebendig bezeichnen. Er konnte sich noch genau erinnern, dass er ihr im Krankenhaus nicht in die Augen hatte schauen können, weil in ihrem gebrochenen Blick die gnadenlosen Spuren des durchlittenen Grauens zu sehen gewesen waren. Ihr Anblick war ihm geradezu unerträglich gewesen, und er hatte sich dabei so beschissen gefühlt wie nie zuvor in seinem Leben. Deshalb war er damals schlicht und ergreifend davongelaufen. Was wohl aus ihr geworden war? Patrizia! Patrizia Bertram war ihr neuer Name geworden. Er hatte seitdem nie wieder etwas von ihr gehört.
Aber vorgestern hatte ihn seine Vergangenheit wie ein Blitz aus heiterem Himmel wieder eingeholt. Zum sicherlich zehnten Mal an diesem Tag zog er den Brief aus seiner Jackettasche, legte ihn vor sich auf den Schreibtisch und strich ihn mit zitternden Fingern glatt. Der Umschlag hatte einen Münchener Poststempel getragen, und der Text war richtig schön altmodisch mit ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben auf Papier aufgeklebt worden:
„Wie viel ist es dir wert, dass deine Rolle bei der Entführung Seiler geheim bleibt? Die Polizei und die Presse würde es sicher interessieren, dass du das Ganze praktisch organisiert hast, und wie viel von dem Lösegeld du selbst behalten hast? Ich weiß es und ich denke eine halbe Million wäre ein angemessenes Schweigegeld. Besorg die Kohle! Du hörst wieder von mir!“
Alleine das Lesen des Briefes reichte, dass Carsten feuchte Hände bekam. Als ob sein Ärger mit den HealCancer Papieren nicht schon genug gewesen wäre, jetzt auch noch das! Schlimmer konnte es wirklich kaum mehr kommen.
Unmittelbar nach dem Öffnen des Briefumschlages vor zwei Tagen hatte ihn nackte Panik gepackt, da er sich zunächst nur den Geldeintreiber als Erpresser vorstellen konnte. Aber je länger er darüber nachdachte, desto mehr verwarf er diesen Gedanken wieder. Der Knochenbrecher hatte nicht ausgesehen wie jemand, der Briefe schrieb. Er hätte sich einfach geholt, was er wollte. Das machte aber das Ganze nicht weniger unheimlich. Das hieß nämlich, dass noch eine weitere Person Kenntnis von seinem Deal mit dem Rumänen und von seiner Rolle bei Steffis Entführung hatte. Aber er hatte nicht die leiseste Ahnung wer.
Irgendwo existierte noch jemand, der sich im Fall Steffi Seiler auch sein Stück von der Torte abschneiden wollte. Und offenbar wusste dieser Typ Bescheid. Wie hätte er sonst wissen können, wie viel von der Kohle Carsten seinerzeit selbst behalten hatte. Und jetzt wollte er eine halbe Million Dollar! Der Kerl hatte ja einen Knall. Er hatte das Geld nicht mehr. Die letzten Kröten davon hatten sich mit dem Desaster seiner Forwards praktisch in Luft aufgelöst.
Wo um alles in der Welt sollte er jetzt kurzfristig eine halbe Mille herzaubern? Seit zwei Tagen drehten sich seine Gedanken verzweifelt im Kreis, wie er das Geld auftreiben könnte. Und gestern Nacht hatte er tatsächlich eine Idee gehabt, die funktionieren konnte. Blöderweise würde dafür wohl noch einmal die Frau herhalten müssen, die er schon einmal verkauft hatte. So sehr es ihm auch für Steffi leidtat, er sah keinen anderen Ausweg. Er würde noch einmal auf ihre Kosten Geld verdienen müssen.