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Cannobio, 3. September

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„Mistkrücke elende!“

Patrizia fluchte und ließ frustriert ihre kleine Tasche auf den Boden fallen. Auch mit zwei Krücken war man wirklich behindert, weil man nichts, aber auch gar nichts in den Händen tragen konnte. Sie lehnte eine der Gehhilfen an den Türstock des Krankenhauszimmers, das sie gerade verließ, versuchte sich ihre Tasche über die Schulter zu hängen und ignorierte das leicht amüsierte Grinsen des jungen Krankenpflegers hinter ihr.

„Und wenn sie die Tasche doch mich tragen lassen, Frau Bertram?“

Patrizia begann stur, wieder los zu humpeln.

„Nein, geht schon!“

Vier Schritte später rutschte die Tasche von ihrer Schulter und verhedderte sich zwischen Unterarm und Krückengriff.

„Ahhh … Bockmist!“

Genervt fädelte sie die Krücke durch den Henkel und startete zu einem neuen Anlauf.

Der Pfleger eilte helfend herbei.

„So, jetzt ist’s aber gut! Bevor sie sich den anderen Fuß auch noch brechen, lassen sie sich das Ding einfach von mir bis zu ihrem Taxi tragen, ja?“

Patrizia schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch. Dann ging sie langsam neben dem geduldigen Krankenpfleger her, der sie in Richtung Ausgang begleitete. Er war wirklich nett und hatte ihre schlechte Laune weiß Gott nicht verdient.

„Danke!“, murmelte sie verlegen.

„Schon gut! Sie lassen sich nicht so gerne helfen, oder?“

Sie warf ihm einen überraschten Seitenblick zu, dann starrte sie wieder schweigend den Flur entlang Richtung Aufzüge. Hatte der Mann Recht? Ließ sie sich nicht gerne helfen? Es war wohl eher so, dass sie es einfach nicht mehr gewohnt war, Hilfe zu bekommen. Früher war das anders gewesen. Zu Sportzeiten waren sie ein funktionierendes Team von Athleten, Trainern, Physiotherapeuten und anderen Betreuern gewesen.

Aber bereits während ihrer kurzen Modelkarriere war ihr überdeutlich vor Augen geführt worden, dass in dieser Welt viele für sich alleine kämpften. Es hatte ihr nicht gefallen, aber sie hatte sich durchgebissen. Vielleicht auch weil sie es seit Kindheitstagen gewohnt gewesen war. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie früh gelernt, sich überwiegend auf sich selbst zu verlassen. Und vor allem während der Jahre seit ihrer Entführung hatte ihr diese Fähigkeit geholfen zu überleben.

Ja, als Überleben konnte man es bezeichnen, als Leben wohl eher nicht! Es war ihr erst in den beiden Tagen mit Michael Stadler wieder richtig bewusst geworden, wie sehr sie den Kontakt zu anderen Menschen vermisst hatte. Es hatte sich gut angefühlt, mit jemandem zu reden und einfach Zuspruch und Unterstützung zu bekommen. Und es hatte sich gut angefühlt, jemandem zu vertrauen. Sie war selbst erstaunt, aber es war so. Sie hatte ihm vertraut, ohne dass sie momentan hätte sagen können warum.

„So, gleich haben sie’s geschafft!“

Die Stimme des Pflegers riss sie jäh aus ihren Grübeleien.

Sie traten durch den Haupteingang der Klinik ins Freie, und Patrizia blinzelte in das helle Licht eines weiteren wunderschönen Sommertages. Der Gedanke, dass sie Michael Stadler wohl nie mehr wiedersehen würde, legte sich plötzlich schwer wie ein Bleigürtel um ihre Seele und die Aussicht auf ihre einsame Wohnung löste zwiespältige Gefühle in ihr aus.

„Ich denke, da vorne steht ihr Taxi. Ich trage ihnen die Tasche noch bis zum Auto!“

Patrizia hob den Kopf, und der Pfleger, der ihr in diesem Moment ins Gesicht sah, registrierte fasziniert das Aufleuchten ihrer Augen. Diese weiteten sich überrascht und aus der endlosen türkisen Tiefe blitzte ein funkelndes Leuchten.

Patrizia starrte auf die Straße und konnte nicht glauben, was sie dort sah. Erstens sah sie ihren alten, roten Ford Focus mitten im Halteverbot vor sich stehen, und zweitens war ein großgewachsener Blondschopf gerade dabei, das Taxi, welches anscheinend auf sie gewartet hatte, wieder wegzuschicken. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Trotzdem machte ihr Herz einen aufgeregten Hüpfer.

„Hi Bohnenstange!“, brüllte der da schon quer über den Platz, was zahlreiche Menschen veranlasste, ihren Blick der so angesprochenen Person, also ihr selbst, zuzuwenden. Mit wenigen Schritten war Michael Stadler bei ihnen und nahm zielstrebig ihre Tasche an sich.

„Spinnst du?“, zischte sie ihn an, nachdem sich der Pfleger verabschiedet hatte.

„Brüll noch ein bisschen lauter, damit es auch der letzte in der Südschweiz hören kann!“

„Wieso? Stimmt doch, oder? Wenn du dich selber für zu dürr hältst, musst du halt ein paar Kilo zulegen.“

Michael Stadler steuerte einfach immer volle Kraft voraus auf sein Ziel zu. Sie setzte gerade dazu an, ihm über den Mund zu fahren, als er ihr mit einem Schlag allen Wind aus den Segeln nahm.

„Trara! Kleiner Willkommensgruß zurück in der Freiheit.“

Mit diesen Worten zückte er einen kleinen Blumenstrauß und hielt ihn ihr unter die Nase.

„So, und jetzt mach hinne und steig ein! Dein Wagen steht nämlich mitten im Halteverbot!“

Patrizia blickte völlig verdutzt auf den kleinen Blumenstrauß. Irgendwie war sie gerade komplett im falschen Film und in ihrer Gefühlswelt passierte etwas, das sie zerstört und vergessen geglaubt hatte. Dieser irre Kerl hatte ihr Blumen geschenkt, so wie’s aussah selbstgepflückte noch dazu. Hatte sie überhaupt in ihrem Leben schon einmal so etwas bekommen? Carsten war eher der Typ langstielige rote Rosen gewesen, und zu Modelzeiten waren es immer überdimensionale Riesenarrangements gewesen, aber selbstgepflückte Wiesenblumen …

„Hallo, Kuckuck! Ich will ja nicht drängeln, aber die niedliche Politesse da hinten war vorher schon nur mit massivem Charmeeinsatz zu bremsen. Wir sollten jetzt also wirklich fahren, wenn du keinen Strafzettel kriegen willst. Ist ja schließlich dein Auto!“

Zehn Minuten später waren sie unterwegs nach Ascona, weil Michael noch schnell bei seinem Freund Marcel vorbeischauen wollte, um den Leistungstest zu besprechen, den er vor zwei Tagen absolviert hatte.

„Übrigens, Eins zu Null für dich!“, meinte er im Auto, während Patrizia immer noch schweigend auf den kleinen Blumenstrauß in ihren Händen schaute.

„Das war eine ganz schöne Ansage in Sachen Rückgrat, die du mir da erteilt hast. Du hast es ganz richtig gesehen. Ich war gerade dabei, dich irgendwie abzuservieren und wusste nur noch nicht recht, wie ich es dir schonend beibringen sollte. War ganz schön konsequent, wie du mich da rausgeschmissen hast. Echt stark!“

Patrizia blickte bei seinen Worten überrascht auf. Mein Gott, konnte der Mann eigentlich mal langsam machen und nicht immer so gnadenlos auf den Punkt kommen?

„Und was hat sich seit vorgestern an der Situation geändert?“, fragte sie vorsichtig.

„Ungefähr fünf Stunden auf dem Rennrad und entsprechend viel Zeit zum Nachdenken!“

Michael hielt kurz inne, blickte in den Rückspiegel und überholte einen Rollerfahrer, bevor er weitersprach.

„Erstens, und das ist das alles Entscheidende. Ich kriege dich einfach nicht aus meinem Kopf! Frag mich nicht warum, aber du machst mich einfach total neugierig. Zweitens war es überhaupt kein Problem, meinen Trainingsplan um dich herum zu basteln. Ich bin tagsüber unterwegs und ob ich abends in Traffiume oder bei dir in deiner Wohnung herumhocke, macht nicht viel Unterschied. Ehrlich gesagt, gefällt mir deine Wohnung sogar besser als meine. Und drittens quatsche ich einfach gerne mit dir, Gollum. So durchgeknallt du manchmal auch bist, aber irgendwie mag ich dich!“

„Was soll das heißen, dir gefällt meine Wohnung besser?“

Patrizia fühlte sich irgendwie, als sei sie unter die Räder einer großen Dampfwalze geraten.

„Und wieso willst du abends bei mir rumhocken?“

Aber das Unheil hatte bereits seinen Lauf genommen.

„Wie soll ich denn für dich kochen, wenn ich nicht in deiner Wohnung hocke, Bohnenstange?“

Noch bevor Patrizia näher auf das Thema Kochen und Essen eingehen konnte, parkte Michael ihren Wagen in einer kleinen Seitenstraße in Ascona.

„So, wir sind da. Da oben hat Marcel seine Praxis. Ich hab dich mit angemeldet und ihn gebeten, dir ein kleines Reha-Programm für deinen Fuß zusammenzubasteln.“

Die Dampfwalze war im Rollen und nur schwer zu stoppen. Sie konnte sich einfach nicht recht gegen Michael Stadler wehren. Einerseits war sie ziemlich sauer, dass er einfach so über sie verfügte, andererseits war alles, was er machte, irgendwie zielführend und vernünftig. Fünf Minuten später stand sie seinem Freund gegenüber und ihr Ärger war schon fast wieder verraucht.

Marcel war ungefähr dreißig Jahre alt. Ein sportlicher, drahtiger schwarzer Wuschelkopf mit wachen und fröhlich blitzenden goldbraunen Augen. Er begrüßte Patrizia freundlich und drückte seinem Kumpel umgehend eine Reihe von Computerausdrucken in die Hand.

„Du liegst ziemlich gut im Plan, Junge. Deine maximale Sauerstoffaufnahme ist noch eine ganze Schippe besser als letztes Jahr, und der Schwellenwert liegt deutlich höher. Wenn jetzt deine Laktattoleranz im Peak-Bereich noch ein bisschen hochgeht, dann fährst du wirklich perfekt vorbereitet nach Hawaii.“

„Das heißt für mein Training?“

„Weniger Umfang, dafür kurzzeitig hohe Spitzenintensität. Alles wie gehabt! Die letzten zwei Wochen dann runterfahren. So und jetzt beweg deinen Hintern ins Wartezimmer, dann kann ich deiner Freundin was über ihren Fuß erzählen!“

„He, wir haben keine Geheimnisse voreinander, und außerdem muss ich ihre Reha überwachen. Wie soll ich das denn machen, wenn ich das Programm nicht kenne.“

Aber die Dampfwalze hatte ihren Meister gefunden und Marcel wandte sich erst an Patrizia, nachdem Michael maulend wie ein kleiner Bub, dem man das Computerspielen verboten hat, aus dem Zimmer verschwunden war.

Sie hatte in ihrer aktiven Sportzeit auch viel mit Physiotherapeuten zu tun gehabt und konnte von daher ziemlich genau einschätzen, ob jemand Ahnung hatte oder nicht. Marcel war ein Profi und sein Konzept deckte sich völlig mit den Verhaltensregeln, die ihr Dr. Gorelli erteilt hatte, nur dass sie jetzt ein schriftliches, sehr detailliert ausgearbeitetes Programm in den Händen hielt.

So gegen fünfzehn Uhr hatte Michael sie in ihrer Wohnung abgeliefert und sich mit einem wie selbstverständlich verkündeten „Bis später“ noch zu einer Laufeinheit verdrückt. Jetzt saß sie auf ihrem Balkon, genoss die Strahlen der warmen Nachmittagssonne und blickte über den glitzernden See. Die Berghänge der gegenüberliegenden Uferseite erhoben sich in einen wolkenlosen Sommerhimmel, und Patrizia beobachtete das geschäftige Treiben entlang der Uferpromenade.

Jetzt im August war die Stadt voller Touristen, und die Geräuschkulisse, die von der Straße nach oben drang war mediterrane Urlaubsstimmung pur. Die Hitze des Tages begann der lauen Brise eines Sommerabends zu weichen, und die Silhouetten von zahlreichen Segelbooten im gleißenden Gegenlicht des Wasserspiegels komplettierten das idyllische Bild. Ihr Blick fiel auf die Kunststoffschiene an ihrem linken Bein, das sie auf den Schemel aus ihrer Küche hochgelegt hatte und wanderte anschließend weiter zu dem hübschen Blumenstrauß, der in einer Vase auf ihrem kleinen Balkontischchen stand. Sie schüttelte zum wiederholten Mal ungläubig den Kopf.

Hatte sie noch vor drei Tagen gedacht, dass ihr Leben monoton und ohne Überraschungen verlaufe, so war sie binnen der letzten 48 Stunden gründlich eines Besseren belehrt worden. Da war die irre Episode ihrer Bergrettung, na schön! Diese Geschichte hatte sie eigentlich schon als einmaliges Ereignis nach dem Motto Klammer auf, Klammer zu, abgehakt. Sie war sich sicher gewesen, dass ab heute wieder die einsame Routine ihres Alltags beginnen würde, vielleicht unterbrochen vom Intermezzo der Haushaltshilfe, die sie sich noch suchen müsste. Gestern hatte ihr Dr. Gorelli kurz den Verlauf der OP geschildert und ihr genau erklärt, wie stark sie ihren Fuß wann belasten dürfte. Die Fäden wollte er in neun Tagen ziehen, die Schrauben und die Platte müsste sie in fünf bis acht Monaten wieder entfernen lassen. Alles kein Problem. Dann hatten seine freundlichen Augen einen sehr ernsten Ausdruck angenommen und er hatte sie auf ihr Körpergewicht angesprochen. Aber letztlich hatte sie dabei nichts erfahren, was sie nicht aus ihrer abgebrochenen Therapie längst gewusst hatte, und deshalb würde das Gespräch auch keinen Einfluss auf ihr Leben haben.

Die Bekanntschaft zu einem gutaussehenden Blondschopf wohl eher schon! Sie zerbrach sich schon die ganze Zeit den Kopf darüber, wie sie sich Michael gegenüber verhalten sollte, wenn er abends tatsächlich noch einmal auftauchen würde. Aber diese Gedanken hätte sie sich ohnehin sparen können.

Irgendwann kurz vor sechs bimmelte ihre altersschwache Türglocke. Da sie die letzten zwölf Monate praktisch keinen Besuch bekommen hatte, war klar, wer vor der Tür stehen würde. Michael Stadler war mit zwei großen Einkaufstüten beladen und brach einmal mehr wie eine Flutwelle über sie herein.

„Mist, jetzt habe ich den Honig vergessen!“, gab er statt einer Begrüßung von sich und stürmte an ihr vorbei direkt in die Küche.

„Hast du Honig im Haus, Bohnenstange? Sonst hole ich noch schnell welchen.“

Patrizia humpelte hinter ihm her.

„Habe ich, wofür soll der sein?“

„Hähnchenbrust im Chili-Honigmantel auf Kürbisrisotto mit Salat. “

„Du willst kochen?“

„Ich dachte, das hätten wir heute Nachmittag schon geklärt. Hast du große Weißweingläser?“

„He, jetzt mal ein bisschen runter vom Gas, Eisenmann. Du kannst nicht einfach hier hereinplatzen und ohne mich zu fragen, meine Küche übernehmen.“

„Was hättest du denn gesagt, wenn ich dich gefragt hätte?“

Völlig ungerührt begann er, die Lebensmittel auf der Arbeitsplatte zu sortieren.

„Ich weiß nicht, ich …“

„… siehst du! Ich frage doch nicht, wenn ich schon vorher weiß, dass ich einen Korb kriegen werde. Manchmal passieren die besten Dinge im Leben einfach so. Entspann dich und lass dich verwöhnen. Glaube mir, ich kenne viele Frauen, die jetzt liebend gerne an deiner Stelle wären. Mein Chili-Honig-Hähnchen ist geradezu legendär. Du brauchst auch gar nichts machen, außer mir zeigen, wo ich das Geschirr und das Werkzeug finde. Hast du jetzt Weingläser oder nicht?“

Patrizia war nähergetreten, und als sich Michael ihr zuwandte, standen sie sich direkt gegenüber. Wieder einmal war er erstaunt, dass sie gar nicht so viel kleiner war als er. Die blauen Augen in ihrem ausgemergelten Gesicht blitzten ihn plötzlich ziemlich entschlossen an. Sie waren wirklich einmalig schön!

„Also gut. Dann lass uns jetzt gleich einmal ein paar Dinge klarstellen Eisenmann! Ich bin dir wirklich dankbar für das, was du die letzten drei Tage alles für mich getan hast. Wahrscheinlich würde ich ohne dich immer noch auf diesem blöden Berg hocken. Ich habe zwar keine Ahnung, warum du mich plötzlich unbedingt bemuttern willst, aber anscheinend kann ich mich nicht dagegen wehren. Mit meinen Krücken bin ich dir momentan körperlich wohl unterlegen …“

„… Momentan?“, spöttelte Michael. Aber zu ihrer eigenen Überraschung war Patrizia jetzt ziemlich in Fahrt.

„Halt jetzt einfach mal dein vorlautes Mundwerk und lass mich ausreden! Wenn du hier unbedingt den Küchenchef spielen willst, bitte! Aber damit eines von Anfang an klar ist: keine Diskussionen über meine Essgewohnheiten oder meine Essensmengen. Keine Fragen, warum ich bin wie ich bin oder was in meinem Leben passiert ist, klar? Ich habe nicht die blöde Therapie in den Wind geschossen, um jetzt meinen Privat-Doc am Hals zu haben. Wenn du diese einfachen Spielregeln akzeptierst, kannst du von mir aus hier kochen, was du willst.“

„Also gut Bohnenstange. Dürfte ich auch noch ein, zwei Dinge klären?“

„Nur zu, ich höre!“

„Mir geht es genau wie dir. Ich habe eigentlich keine Ahnung, warum ich gerade hier in deiner Küche stehe. Ich weiß nur, dass ich mich vorgestern, nachdem du mich weggeschickt hast, richtig beschissen gefühlt habe, und dass du mir seitdem ständig im Kopf herumspukst. Ich würde zugegebenermaßen gerne mehr über dich herausfinden, weil du mich einfach wahnsinnig neugierig machst. Aber ich werde deine Spielregeln akzeptieren, wenn du mir auch ein bisschen entgegenkommst.“

„Inwiefern?“

„Wenn wir schon nicht über dich quatschen können, dann lieferst du mir für jeden Abend ein Alternativthema. Außerdem kein Rumgejammere, wenn dir deine Portion zu klein ist, und ich den Rest selber verputzt habe. Training macht hungrig, und mein Essen ist wirklich gut!“

Fast gegen ihren Willen zogen sich Patrizias Mundwinkel nach oben.

„Wenn deine Kochkünste nur halb so groß sind wie dein Ego, Mister Triathlon, dann stehen uns ja fantastische kulinarische Events bevor. Wie meinst du das mit dem Alternativthema?“

„Na ja, ich koche, und du lieferst ein Thema, über das wir uns beim Essen unterhalten. Ich finde, es gibt nichts Schlimmeres als zwei Menschen, die sich am Tisch anschweigen.“

Jetzt überzog tatsächlich ein Lächeln ihr Gesicht.

„Die Gefahr schätze ich bei dir sowieso ziemlich gering ein. An was für Themen dachtest du denn?“

„Ach, was immer du willst. Musik, Sport oder Filme! Politik, Astronomie oder Geschichte der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Klatschpresse oder Philosophie, Goethe oder Comics. Ich bin da nicht wählerisch.“

„Gott steh mir bei!“, murmelte Patrizia und holte zwei Weingläser aus einem der Hängeschränke.

„Vielleicht ist ja Essen wirklich das kleinere Übel als Reden.“

„Siehst du, das gefällt mir so an dir.“, grinste Michael. „Du durchschaust mich immer sofort, und jetzt heiz doch schon mal den Ofen auf 160 Grad vor!“

Noch am Nachmittag war sich Patrizia nicht sicher gewesen, ob sie einen Mann sozusagen als Gast oder als Freund oder wie auch immer man es nennen mochte, am Abend in ihrer Wohnung haben wollte. Aber jetzt erstaunte es sie, wie selbstverständlich Michael in ihre Küche zu gehören schien. Die Stimmung war nicht verkrampft oder gezwungen. Nein, er hantierte dort in einer Art und Weise, als wohne er schon seit Monaten bei ihr. Es war bescheuert, aber es fühlte sich irgendwie richtig an, dass er dort stand.

Und plötzlich merkte sie, dass sie sich auf den Abend mit ihm freute. Vielleicht nicht unbedingt auf das Essen, aber auf seine Gesellschaft, ja sogar auf seine dummen Sprüche. Michael hatte die Hühnerbrüste gewaschen und zum Trocknen auf Küchenpapier gelegt. Jetzt begann er ein Stück Muskatkürbis zu schälen und in Stücke zu schneiden.

„Kann ich dir bei irgendetwas helfen?“, fragte Patrizia, „schnippeln kann ich ja auch im Sitzen.“

„Ja, du könntest erstens für Musik sorgen, die Bock zum Kochen macht, dir zweitens überlegen, worüber du heute mit mir quatschen willst, und wenn du Lust dazu hast, tatsächlich ein bisschen schnippeln. Der Rosmarin und der Thymian gehören kleingehackt, ebenso die Knoblauchzehen und die Chilischote.“

Sie schwang sich auf ihren Krücken ins Wohnzimmer und schaltete ihre Bluetooth Box ein. Dann scrollte sie durch die Musikordner ihres Handys, während sie überlegte, was für Musik sie aussuchen sollte. Sie hatte sich früher selbst immer als musikalisches Chamäleon bezeichnet. Während ihre früheren Freunde oft ziemlich auf eine Musikrichtung festgelegt waren, hatte sie außer volkstümlich und Techno einfach alles gehört. Von Klassik bis Jazz und von Oldies bis zur aktuellen Pop-Musik. In der ersten Zeit nach ihrer Entführung hatte sie am Musikhören genauso das Interesse verloren, wie an den meisten anderen Dingen. Aber irgendwann war sie in die Gruppe eines Musiktherapeuten geraten und hatte gemerkt, dass Musik bisweilen eine Möglichkeit war, sie aus ihren depressiven Phasen zu holen. Es klappte zwar nicht immer, aber manchmal half es.

Da sie im letzten Jahr viel Zeit mit sich selbst in geschlossenen Räumen verbracht hatte, verfügte sie inzwischen über eine ansehnliche Sammlung von Musik aller Stilrichtungen. Ihre Wahl fiel auf Jazz. Flotter Jazz war eine gute Hintergrundmusik zum Kochen. Kurz darauf blies Leroy Jones auf seiner Trompete den Weg Down to New Orleans und Patrizia schielte in die Küche, um zu sehen, wie ihre Wahl ankam.

„Hey cool, Bohnenstange. Guter, klassischer Jazz! Hätte ich dir gar nicht zugetraut. Ich hätte dich eher für den Typ esoterische Entspannungsmusik gehalten. Du weißt schon, Vogelgezwitscher und so!“

„Wie kommst du denn auf die Idee?“

„Na ja, du schaust halt irgendwie nach alternativer Musik aus.“

Patrizia fiel die Kinnlade herunter. Gerade weil sie ziemlich stolz auf ihre umfangreiche Musiksammlung war, reagierte sie sauer auf Michaels schwachsinniges Vorurteil.

„Ach so. Ich bin für dich also der dürre Dorfdepp, so nach dem Motto: Wer nichts auf den Rippen hat, hat auch sonst nichts drauf.“

„Habe ich doch gar nicht gesagt, reg dich wieder ab! Ich habe dich lediglich eher für den Typ Entspannungsmusik gehalten.“

„Ich hasse diese Endlosschleifenmusik!“

„Na ja, in der Sauna oder bei der Telefonfürsorge mag’s ja ganz nett sein, aber zum Kochen ist Leroy Jones definitiv die bessere Wahl.“

Patrizia zollte insgeheim Michael Respekt dafür, dass er die amerikanische Jazz-Legende sofort erkannt hatte, und begann die Schalotten, die auf der Theke lagen, zu schälen. Umgehend zog er das Schneidebrett auf seine Seite.

„Mach du mal den Rosmarin und den Thymian, die Schalotten schneide ich lieber selber!“

Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine fragende Falte, die irgendwie süß aussah. Sie ließ ihre Hand mit dem Messer sinken und schielte ihm tadelnd ins Gesicht.

„Du traust mir ja anscheinend nicht wirklich viel zu, oder?“

„Doch, doch, aber ich finde es immer so deprimierend, wenn meine Frauenbekanntschaften schon beim ersten gemeinsamen Kochen heulen!“

Patrizia verdrehte die Augen, musste aber schmunzeln. Sie begann die Kräuter zu hacken.

„Kochst du oft mit fremden Frauen, Mister Triathlon?“

„Das wüsstest du wohl gerne, was? Aber keine Angst, du bist erst die dritte diese Woche! Ich quatsche einfach gerne bei gutem Essen und einem guten Glas Wein. Es soll ja auch Männer im Paralleluniversum von Tiefkühlpizza und Bier geben.“

Er hatte erstaunlich zügig die Schalotten gehackt und begann sie zusammen mit den Kürbiswürfeln in Olivenöl anzuschwitzen. Dann gab er den Arborio Reis hinzu.

„Und, hast du dir schon ein Gesprächsthema ausgesucht?“

„Geschichte der Wahrscheinlichkeitsrechnung!“, platzte es aus ihr heraus, noch bevor sie groß nachgedacht hatte. Die Versuchung, ihm ein bisschen auf den Zahn zu fühlen war einfach zu groß.

„Darauf hätte ich wetten können!“, grinste Michael während er die Risottopfanne zunächst mit Brühe, dann mit Weißwein und etwas Sahne aufgoss.

„Lass mich das hier fertigmachen und mich ein bisschen überlegen, wie ich die Wunder der Mathematik spannend verpacken kann. Wenn du aber außer Innenarchitektur auch noch Mathe studiert hast, dann sag’s mir bitte gleich, bevor ich mich blamiere.“

„Keine Angst, du kannst mir erzählen, was du willst.“

„Solche Frauen mag ich am liebsten. So, das Risotto köchelt, jetzt könntest du den Honig-Sirup einkochen, während ich die Hühnerbrüste anbrate.“

Ob sie wollte oder nicht, die Kocherei von Michael Stadler begann Patrizia wirklich zu beeindrucken. Er legte die gewürzten Hühnerbrüste in die Pfanne und gemeinsam gaben sie die Kräuter, den Knoblauch, die Chilischote sowie frischen Limonensaft und Honig in den Geflügelfonds, den er bereits vorbereitet hatte.

„So, das lassen wir jetzt langsam einköcheln, bis ein zäher Sirup daraus wird, dann bestreichen wir die Hühnerbrüste, eine Viertelstunde in den Backofen damit und fertig! Wenn du mir sagst, wo die Teller sind, dann decke ich schon den Tisch und du legst derweilen mal dein Bein hoch.“

Er nahm einen Schluck Weißwein.

„Mmh, der Silvaner ist echt gut, schade, dass ich mich im Training eigentlich zurückhalten sollte. Trinkst du Wein, Bohnenstange?“

„Ich habe nach dem Abbruch meiner Therapie alle Tabletten abgesetzt und möchte meine Probleme jetzt nicht mit Alkohol lösen. Aber ein Glas zum Anstoßen sollte schon gehen.“

Michael verfrachtete sie auf das kleine Sofa und begann den kleinen Esstisch zu decken.

„Da verbietest du mir, dich nach deiner Vergangenheit zu fragen und dann machst du mich immer wieder mit deinem Therapie- und Problemgeschwafel neugierig, das ist nicht fair, Gollum.“

„Wann wäre Gollum jemals fair gewesen? Wie ist das jetzt mit der Geschichte der Wahrscheinlichkeitsrechnung?“

Nachdem er die Hühnerbrüste eingepinselt und in den Backofen geschoben hatte, setzte sich Michael zu ihr und hielt ihr sein Weinglas zum Anstoßen entgegen.

„Also, wenn du es mir nicht als Themaverfehlung ankreidest, dann beginne ich mit Karl Friedrich Gauss und seiner arithmetischen Hilfe bei der Erforschung unseres Planetensystems. Ist zwar nur ein bisschen Wahrscheinlichkeitsrechnung, aber der Sternenhimmel ist vielleicht ein bisschen romantischer als die Normalverteilung oder das de Mere-sche Würfelproblem.“

Patrizia konnte es nicht fassen. Dieser verrückte Typ meinte es wirklich ernst. Sie hatte in ihrer Zeit als Model unzählige, gruselig schlechte, aber auch viele gelungene Versuche von Männern erlebt, die mit ihr ins Gespräch kommen wollten. Mit Mathe hatte dabei nie einer angefangen. Das Verrückteste aber war, dass sie jetzt echt total gespannt war, was kommen würde.

„Schließ deine Augen und begib dich mit mir in die Silvesternacht des Jahres 1801. Die Welt feiert den Jahreswechsel und wir sind in der Sternenwarte von Palermo. Eine phantastische klare Winternacht liegt über Siziliens Hauptstadt, und die funkelnden Sterne erzählen ihre Geschichten aus anderen Zeiten. Guiseppe Piazzi, Theologe und Hofastronom, schaut fasziniert durch sein für damalige Verhältnisse hochmodernes Himmelsteleskop. Er hat im schwarzen Niemandsland hinter dem Mars einen kleinen Himmelskörper entdeckt, der rasend schnell durchs Weltall eilt. Es ist der erste Asteroid, der in unserem Sonnensystem entdeckt wurde, und er benennt ihn nach der römischen Erdgöttin Ceres. Er schafft es einundvierzig Tage lang, den kleinen Asteroiden mit seinem Fernrohr zu verfolgen, verliert ihn aber dann aus den Augen. Der kleine Himmelskörper scheint auf ewig in den Weiten des Weltalls verloren.“

„Wie traurig!“, bemerkte Patrizia ironisch und schüttelte den Kopf. So weit hergeholt die Geschichte auch war, sie machte neugierig.

„Und was hat das Ganze mit Wahrscheinlichkeitsrechnung zu tun?“

„Geduld, Geduld! Von Ceres regelrecht besessen, lässt Piazzi monatelang seine besten Astronomen nach dem Asteroiden suchen. Aber der ist im Gegenlicht der Sonne verschwunden und es ist wahrlich schwieriger, diesen kleinen Gesteinsbrocken im unendlichen Weltall wiederzufinden, als die berühmte Stecknadel im Heuhaufen. Und jetzt kommt’s. In seiner Verzweiflung wendet sich Piazzi an den jungen, aufgehenden Stern am Mathematikerhimmel, Karl Friedrich Gauss. Der gerade mal dreiundzwanzigjährige junge Wissenschaftler hat eine ausgeprägte Schwäche für die Probleme der astronomischen Arithmetik. Er lässt alle seine laufenden Arbeiten liegen und stürzt sich in seinem düsteren Braunschweiger Studierzimmer – nur auf Piazzis wenige Beobachtungen gestützt – in eine Zahlenwelt, in die ihm damals kein zweiter Mensch auf dieser Erde folgen kann.“

„Und dann?“

„Ich glaube, Hühnerbrust und Risotto sind jetzt fertig!“

„Bitte was? Ich will jetzt aber wissen, wie die Geschichte von Ceres weitergeht!“

„Ich lasse aber trotzdem das Huhn nicht anbrennen! Setz dich schon mal an den Tisch, ich hole das Essen.“

„Du bist ein völlig durchgeknallter Typ, Eisenmann. Ich dachte immer, ich bin die Queen des unnützen Wissens, aber du schlägst mich ja noch um Längen.“

Michael füllte beide Teller mit Essen und schob einen davon zu Patrizia. Er registrierte zufrieden, dass sie fast unbewusst zu essen begann und dass sie außerdem eine total interessierte Zuhörerin war.

„Also, was machte Gauss?“

„Er tauchte tatsächlich monatelang in eine abstruse Zahlenwelt ab, entwickelte eine völlig neue Methode der mathematischen Statistik und acht Monate später stellt sich der Kerl hin und nennt den Astronomen einen Punkt im Weltall, wohin sie ihre Fernrohre richten sollen. Und Abrakadabra … Ceres ist genau da, wo er es sagt. Ist das nicht völlig irre?“

Michaels Augen leuchteten vor Begeisterung.

„Du musst dir das mal vorstellen! Wir wissen heute, dass Ceres nur knapp tausend Kilometer im Durchmesser hat, seine mittlere Entfernung von der Sonne beträgt fast fünfhundert Millionen Kilometer und er schießt mit fast achtzehntausend Kilometern pro Sekunde durchs All. Und dieser Typ rechnet im Jahr 1801 nur mit Papier und Bleistift mit einer derartigen Präzision, dass man Ceres nach Monaten des Verschwindens bereits im ersten Versuch wiederfindet. Ist das nicht völlig unglaublich?“

Patrizia schwieg eine Weile und bedachte ihn mit einem eigenartigen Blick.

„Unglaublich ist, dass ich hier mit dir sitze, dein wirklich exquisites Huhn esse und deine Geschichte von Gauß und Wahrscheinlichkeitsrechnung ultraspannend finde. So etwas wie du ist mir noch nie über den Weg gelaufen, Eisenmann!“

Mit einer entschuldigenden Geste schob sie Michael ihren halb geleerten Teller hin.

„Nicht böse sein, dein Huhn ist wirklich legendär, aber ich habe eh schon mehr gegessen als normal. Mein Magen packt einfach nicht mehr.“

„Kein Problem Bohnenstange. Ich halte mich an die Spielregeln. Ich habe Kohldampf und ziehe mir deine Portion gerne noch rein. Aber nachher nicht jammern.“

Sie beobachtete, wie Michael genussvoll alle Teller und Töpfe leerte, und dachte wieder wehmütig an ihre Sportzeit zurück. Im Skigymnasium hatten sie nach den harten Trainingseinheiten auch reingehauen wie die Scheunendrescher. Als Michael fertig gegessen hatte, wischte er sich den Mund mit der Serviette ab, lehnte sich zurück und lächelte sie an.

„Und wieder machst du mir die Zähne lang mit einem Hinweis auf dein früheres Leben. Queen des unnützen Wissens ist ja ein netter Titel, mich nennen meine Kumpels meistens nur Schwätzer.“

„Also wenn das, was du erzählst, immer so interessant wie deine Ceres-Geschichte ist, würde ich vielleicht Vielredner benutzen. Schwätzer ist eindeutig zu despektierlich.“

„Danke für die Blumen. Lass mich doch mal an deinem unnützen Wissen teilhaben.“

Während Michael begann, Esstisch und Küche aufzuräumen, dachte Patrizia kurz nach.

„Schließ deine Augen und begib dich mit mir ins Jahr 1993 irgendwo in Deutschland …“

Michael befüllte gerade die Spülmaschine und musste grinsen. Gollum gefiel ihm immer besser. Witzig, wie ironisch sie ihn nachahmte.

„… die Elektrohändler im ganzen Land sind verzweifelt. Ihre Service- und Reparaturstätten sind völlig überlastet. Noch nie wurden binnen kürzester Zeit so viele Videorekorder mit defekter Vor- und Rückspultaste zur Reparatur gebracht.“

„Wieso das denn?“

Jetzt horchte er interessiert auf, und Gollum schenkte ihm wieder dieses zaghafte Lächeln, das irgendetwas in ihm zum Klingeln brachte.

„Geduld! Geduld! Der Film Basic Instinct ist kürzlich auf dem deutschen Videomarkt erschienen, und Sharon Stone’s legendärer Beinüberschlag, der für Sekundenbruchteile zeigt, dass sie keine Unterwäsche trägt, bringt die Vor- und Rückspultasten auf Deutschlands Videorekordern zum Glühen …“

„Kein Scheiß?“

„Kein Scheiß, Michael Stadler! Nie wieder wurden mehr Videorekorder zur Reparatur gebracht, als damals. Das beweist wieder einmal, nimm’s bitte nicht persönlich, mit welchem Körperteil Männer am liebsten denken.“

Michael starrte sie ehrfürchtig an.

„Wow! Das nenne ich mal unnützes Wissen allererster Güte! Nicht schlecht, Bohnenstange, du beeindruckst mich immer mehr!“

„Schön, dass das bei dir so einfach geht, Eisenmann!“

Kurze Zeit später saßen sie mit zwei Espressi wieder am Tischchen, und Patrizia erzählte aus dem Leben des amerikanischen Comic-Texters Bill Watterson. Michael kannte zwar alle dessen Calvin und Hobbes Stories, lauschte aber fasziniert ihrer Erzählung, wie Watterson seinerzeit den Aufstand der Comic-Autoren gegen das scheinbar übermächtige Syndikat aus Zeitungs- und Buchverlegern begonnen hatte.

Der Eisenmann war nicht nur ein guter Erzähler, sondern konnte auch aufmerksam zuhören. Eine Anekdote vom ersten Aufeinandertreffen der Asterixväter Rene Goscinny und Albert Uderzo folgte, und es fehlte ihnen keine Sekunde an Gesprächsstoff. Es war schon halb zwölf, als sich Michael schließlich zum Aufbruch fertig machte.

„Sorry, so gerne ich auch hier sitze, aber jetzt ist es wirklich Zeit für mich, Bohnenstange. Ich habe morgen wieder einen langen Trainingstag vor mir. Eigentlich müsste ich eh schon längst in der Falle sein, Regeneration und so, du kennst ja das Spielchen.“

„Was steht denn morgen auf dem Plan?“

„Vormittags eine Einheit Schwimmen und nachmittags nochmal eine Runde Laufen. Übermorgen radle ich dann übers Ticino-Tal hinauf nach Disentis und wieder zurück. Aber Sonntag habe ich Ruhetag, da können wir vielleicht was unternehmen.“

Er machte anscheinend wirklich Ernst und plante, auch die nächsten Tage Zeit mit ihr zu verbringen. Patrizia war sich irgendwie immer noch nicht sicher, was sie davon halten sollte.

„Danke fürs Kochen, Michael. Und da kannst du dir wirklich etwas darauf einbilden. Das habe ich schon lange nicht mehr zu jemandem gesagt. Und danke für deine Geschichte. Der Abend war wirklich sehr schön.“

„Danke zurück Bohnenstange. Ich fand’s auch richtig gemütlich hier bei dir. Schlaf gut und lass dich nicht von den Ringgeistern ärgern! Träum einfach von Calvin und Hobbes! Bis morgen.“

Er legte zum Abschied kurz locker einen Arm um sie, was sie eigenartigerweise nicht störte, und lief dann leichtfüßig durch das alte Treppenhaus hinab auf die Straße. Patrizia schloss die Tür, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und ließ den Blick durch ihre Wohnung wandern, über die sich jetzt wieder Stille gelegt hatte. Es erschien ihr einfach völlig unwirklich, dass sie Michael vor vier Tagen noch gar nicht gekannt hatte und jetzt so ein Auftritt in ihrer Küche. Im Grunde, überlegte sie, hatte auch Stephanie Seiler nur wenig nettere Abende verbracht als heute Patrizia Bertram.

Und in dieser Nacht träumte sie tatsächlich einmal nicht vom Eingesperrtsein in dunklen Räumen und von schwarzer Hilflosigkeit. Ein seltsames Potpourri aus Schalotten, Kürbiswürfeln, Hofastronomen und zwei tiefblauen Augen überstrahlte die Dunkelheit, die sonst oft nachts ihre Seele umklammerte.

Die tote Zeugin

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