Читать книгу Die tote Zeugin - Georg Kustermann - Страница 14
Cannobio, 1. September
ОглавлениеMichael kurbelte seinen Bus die vielen Kehren von Falmenta zur Hauptstraße hinunter und die Routine des Fahrens mit dem vertrauten Blick auf die alten Armaturen ließ seine Gedanken wieder Boden unter den Füßen fassen. Die letzten zwölf Stunden waren irgendwie ein gänzlich irrealer Ausflug in etwas gewesen, das momentan fast wie eine Filmszene auf ihn wirkte. Wäre nicht dieses seltsame Geschöpf auf dem Beifahrersitz gewesen, hätte er fast glauben mögen, alles nur geträumt zu haben. Aber sie war echt und saß jetzt in trübes Schweigen versunken neben ihm. Verstohlen betrachtete er sie von der Seite.
Dass Patrizia Bertram ein Problem hatte, war ja schon oben im Bivacco kaum zu übersehen gewesen. Aber irgendwie wurde sie immer unergründlicher. Ein bis auf die Knochen abgemagertes, mit panischen Ängsten behaftetes Mädchen, das auf den ersten Blick völlig gestört und daneben wirkte. Aber in dem Gespräch am gestrigen Abend hatte sich mehr und mehr gezeigt, dass sie einiges auf dem Kasten hatte und eine ziemlich interessante Gesprächspartnerin sein konnte.
Aber es war vor allem der Blick aus ihren endlos tiefen Augen, der ihm immer wieder durch und durch gegangen war. Die wenigen Male, in welchen ihr schüchternes Lächeln aufgeblitzt war, hatten ihn schon gestern eigenartig gefangen genommen, aber das Verschmelzen ihrer Blicke heute Morgen beim Sonnenaufgang war etwas gewesen, was er in dieser Intensität noch nie erlebt hatte. Eine geheimnisvolle Aura umgab sie, es schien zudem verdammt schwer, etwas Vernünftiges aus ihr herauszubekommen. Auch in den Phasen, in denen sie etwas auftaute und zu reden begann, gab sie kaum etwas über sich selbst preis.
Außerdem war es ja wohl nicht normal, dass ein junges Mädchen praktisch völlig alleine, ohne Angehörige oder Freunde, in Cannobio lebte. Irgendetwas musste ihr Leben völlig aus der Bahn geworfen haben, denn das wenige, das er über sie wusste, zeigte ja, dass sie einmal ein normales Leben geführt hatte. Bergtouren im Chiemgau, Biathlon, Comics … irgendwann war sie wohl ein normales Mädchen gewesen. Er konnte sich sogar vorstellen, dass sie einmal ganz hübsch gewesen war, mit ihren Wahnsinnsaugen und dem schön geformten Mund mit den makellosen Zähnen. Derzeit allerdings glich ihr ausgezehrtes Gesicht mit den hohlen Wangen und dem fast kahl geschorenen Schädel eher einem Totenkopf. Aber zwanzig Kilo mehr auf den Rippen würden wahrscheinlich Wunder wirken.
Da sie sonst niemanden hatte, musste er sie jetzt in jedem Fall mal im Krankenhaus abliefern, aber dann war es höchste Zeit, sich wieder um seinen eigenen Kram zu kümmern. Er hatte schließlich einen strikten Trainingsplan einzuhalten und spätestens morgen sollte er wieder mit seiner regulären Vorbereitung für Hawaii weitermachen. Heute konnte er trainingsmäßig eh vergessen, also lieber gleich alles erledigen, was anfiel. Da sie bereits kurz nach Sonnenaufgang aufgebrochen waren, war es gerade erst neun Uhr, fast der ganze Tag lag noch vor ihnen. Kurz vor Traffiume hatte er sich seiner Art entsprechend schon einen genauen Ablauf zurechtgelegt.
„Pass auf Trish! Ich fahre jetzt schnell an meiner Wohnung vorbei und ziehe mir etwas Vernünftiges an. Dauert nicht lange, du kannst derweil im Auto warten. Dann fahren wir zu dir, damit du dir ein paar Sachen für die Klinik holen kannst und irgendwann muss ich mir noch ein Frühstück zwischen die Kiemen schmeißen. So viel Zeit muss sein und dir würden ein paar Kalorien sicher auch nicht schaden. Training ohne Essen geht gar nicht und das Dinner gestern war auch nicht gerade üppig. Wo wohnst du denn genau?“
Patrizia nannte ihm ihre Adresse in der Via Francesco.
„Nicht schlecht Herr Specht!“, meinte Michael anerkennend.
„Zimmer mit Ausblick! Liegt irgendwo in der Nähe der Gelateria an der nördlichen Seepromenade, oder?“
„Fast direkt darüber im zweiten Stock, ohne Aufzug. Perfekt für Leute mit Krücken!“, antwortete Patrizia sarkastisch.
Hinter dem Campingplatz Valle Romantica bogen sie links über die alte spektakuläre Steinbrücke Richtung Traffiume ab und hielten kurz darauf am Ortseingang vor einem älteren Haus direkt oberhalb des Flusstals. Der Mann, der sie vom Berg heruntergeschleppt hatte, stellte den Motor ab und hüpfte aus dem Wagen.
„Bin gleich wieder da!“, rief er und joggte mit lockeren Schritten Richtung Hauseingang. Während sie wartete, blickte Patrizia hinab in das Flusstal und dachte wieder einmal, was für ein wunderschöner Flecken Erde das Westufer des Lago Maggiore doch war.
Der Cannobio zog in einem tiefen, aber breit ausgeschnittenen Tal in einem riesigen Mäander um eine felsige Halbinsel herum. Auf selbiger Halbinsel hatte vor fast hundert Jahren ein betuchter Schweizer eine Art privaten botanischen Garten anlegen lassen. Wer einmal die bekannte Isola Bella besucht hat, der weiß, welche Blumenpracht und Artenvielfalt das Klima an den oberitalienischen Seen hervorbringen kann. Riesige Rhododendren, Azaleen und Magnolienbäume, die aus Chile eingeführten Araukarien, die wie künstliche Fichten mit dreieckigen Blättern aussehen, Tulpenbäume oder japanische Zierkirschen bildeten die obere Etage der Vegetation. Darunter führte eine Blumenpracht von Rosen, Hortensien, Geranien und allerlei Wildblumen das Regiment. Mittlerweile wurde die Halbinsel als Campingplatz genutzt, was aber ihrem Zauber keinen Abbruch tat.
Kurz vor der alten Steinbrücke hatte der Fluss eine steile Felswand unterschnitten und bildete dort eine tiefe, breite Wassergumpe. An der Kurveninnenseite lag eine große Kiesbank aus hellen Steinen, auf der bereits erste Badende ihre Handtücher ausgebreitet hatten. Die Berghänge oberhalb des Flusses leuchteten im satten hellgrün der Maronibäume und darüber überstrahlte ein samtiger, tiefblauer Sommerhimmel die gesamte Szenerie. Es war kein Wunder, dass das Tal von den Einheimischen auch liebevoll Valle Romantica genannt wurde.
Patrizia betrachtete ein Pärchen, das am Flussufer eng umschlungen die Sommersonne genoss und versuchte, sich wehmütig vorzustellen, ob so etwas in ihrem Leben irgendwann auch wieder möglich sein konnte. Während sie die unbeschwerte Stimmung dieses Sommertages in sich aufzunehmen versuchte, kam Michael Stadler zurück. Er hatte seine Sportklamotten gegen eine Jeans und ein eng sitzendes blaues T-Shirt getauscht, das seine sportliche Figur mit den breiten Schultern und seine Augenfarbe betonte. Zum ersten Mal registrierte sie bewusst, was für ein ausnehmend attraktiver Mann er war. Sein Gesicht war markant männlich, mit gerader Nase, vollen Lippen und einem kräftigen Kinn. Er war ziemlich braungebrannt, wahrscheinlich wegen der vielen Trainingsstunden im Freien und seine dunkelblonden Haare, die offensichtlich jedem Kamm wild verstrubbelt Paroli boten, durchzogen viele von der Sonne ausgebleichte Strähnen. In der Hand hielt er einen großen Becher, aus dem er während des Näherkommens trank.
„Power-Shake!“, meinte er erklärend.
„Ein bisschen Treibstoff für die Maschine, der Cappuccino nachher ist eher für die Seele als für den Body. Willst du auch?“
Patrizia kannte diese Nahrungsergänzungsmittel aus ihrer aktiven Sportzeit noch ganz gut, schüttelte aber den Kopf, Michael kippte den Rest achselzuckend selbst hinunter.
„Musst du selber wissen, Bohnenstange. Nächste Station ist deine Wohnung und dann gibt’s nochmal eine Chance zu essen. Im Caffè Bar Sport an der Schiffsanlegestelle. Kennst du sicher und dann weißt du ja auch, dass man nirgendwo in Cannobio schöner und besser frühstücken kann. Ich lade dich ein. Geht sich zeitlich auch noch aus. Ich habe gerade nochmal mit Marcel telefoniert, er hat uns so gegen zwölf Uhr in Locarno angekündigt.“
An der Seepromenade bei ihrer Wohnung stoppte Michael seinen Wagen in bester Einheimischen-Manier mitten im Halteverbot vor dem Altbau mit den hohen Bogenfenstern und den geschmiedeten Balkongeländern.
„Du stehst praktisch direkt unter dem Halteverbotsschild!“
Diese Bemerkung konnte sie sich nicht verkneifen, doch sie erntete nur ein belustigtes Augenzwinkern.
„Notfall! Ich werde dich zum Packen ja wieder hoch tragen müssen und längere Strecken schaffe ich so schlecht.“
Er ließ gar keine Diskussion zu, wie bei einem eingespielten Team kletterte Patrizia direkt vom Autositz auf seinen Rücken und er schleppte sie huckepack locker das enge Treppenhaus hoch bis vor ihre Wohnungstür.
„Habe ich von einer Tante geerbt“, erklärte sie kurz, während sie die Wohnungstür aufschloss und Michael hineinbat. In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass er außer Claudia der einzige Mensch war, der diese Wohnung je betreten hatte.
Michael wusste nicht recht, was er erwartet hatte. Vielleicht eine Höhle, die dem düsteren Wesen ihrer Besitzerin entsprach, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Ein für die hiesigen Bauten typischer enger dunkler Flur öffnete sich zu einem hohen sonnendurchfluteten Raum mit Fensterfront und schnuckeligem Balkon zur Südseite. Es war eine Art Wohn- und Esszimmer, das in auffallend stilsicherer Art alte traditionelle italienische Möbel mit modernen Accessoires verband. Links stand eine kleine venezianische Sitzgruppe bestehend aus Zweisitzersofa, Sessel und Tischchen. Ein gut gefülltes Bücherregal in dunklem Holz, aber modernerem Design dominierte die Wand neben der Tür und rechts direkt vor dem Balkonfenster mit atemberaubendem Ausblick auf den See stand ein Esstisch aus Wurzelholzplatte mit Naturrindenrand und zwei Holzstühlen mit tulpenförmiger Lehne.
Die Vorhänge, die Bilder an den Wänden, jede Vase und überhaupt jeder Gegenstand, der das Ambiente ergänzte, zeugte von viel Hingabe und Liebe zum Detail bei der Einrichtung. Michael stieß einen anerkennenden Pfiff aus.
„Pfffft, klein aber fein! Echt toll eingerichtet. Hast du das alles selber gemacht?“
„Die Sitzgruppe und der Tisch mit den beiden Stühlen waren schon da, aber den Rest habe ich im Verlauf des letzten Jahres so nach und nach selber hergeschleppt.“
„Schaut gut aus, irgendwie richtig professionell. Fast wie aus einem Magazin Schöner Wohnen oder so.“
„Ich habe mal drei Semester Innenarchitektur studiert, Räume und Wohnungen zu gestalten hat mir schon immer riesigen Spaß gemacht.“, meinte Patrizia achselzuckend. Dabei glitt ein leises Lächeln über ihr Gesicht, während er verwundert seinen Kopf schüttelte.
„Du bist ein rätselhaftes Wesen, Gollum! Manchmal denkt man, du hättest dein bisheriges Leben hauptsächlich auf der Flucht vor Sauron und den Ringgeistern verbracht, und dann blitzen immer diese Geschichten aus deiner Vergangenheit auf. Erzähl doch mal ein bisschen mehr von dir! Was hast du sonst noch alles gemacht und was treibst du momentan?“
Natürlich bekam er keine Antwort.
„Ich schaue jetzt besser, dass ich meine Sachen zusammensuche.“, meinte Patrizia ausweichend und verschwand humpelnd in einem Zimmer auf der anderen Flurseite.
Michael nutzte die Zeit und sah sich weiter in der Wohnung um. Er inspizierte kurz das Bücherregal, in dem viel Belletristik aber vor allem auch große Reise-Bildbände aus aller Welt standen. In einem freien Brett rechts lagen säuberlich aufgereiht ein Notebook, ein Tablet und die zugehörigen Ladegeräte nach Größe sortiert. Auch der Rest des Zimmers verkündete entschieden, dass Gollum ein ziemlich ordentlicher Typ war.
Dann schlenderte er in die kleine, aber gut ausgestattete Küche am Ende des Ganges. Auch diese sah extrem sauber, ja fast unbenutzt aus, was Michael angesichts des Erscheinungsbildes ihrer Besitzerin nicht weiter verwunderte.
„Ich denke, dir muss mal wieder jemand Spaß am Essen beibringen!“, murmelte er vor sich hin. Er selbst war zwar sicher kein Sternekoch, aber da er als Profisportler ziemlich auf seine Ernährung achten musste, hatte er sich im Laufe der Jahre ein ganz passables Repertoire an guten und gesunden Gerichten angeeignet. Er ging im Kopf bereits durch, womit er Patrizia zum Essen bewegen könnte, als er innehielt und über sich selbst den Kopf schüttelte. ‚Junge, du bereitest dich hier auf den Ironman vor und bist nicht Ernährungsberater für Magersüchtige!‘
In diesem Moment humpelte Patrizia wieder in den Flur. Zufall oder nicht, sie trug genau wie er eine Jeans und dazu eine blaue Bluse und, oh Wunder, sie lächelte ihn sogar ein klein wenig an. In ihrer Rechten hielt sie eine Tasche, mit ihrer Linken stützte sie sich an der Wand ab. Dadurch kam ihre Hand fast in Michaels Augenhöhe zu liegen. Sie hatte lange schlanke Finger, aber die Nägel ihrer linken Hand waren eigenartig verwachsen. Sie entsprangen dem Nagelbett mit tiefen Längsrupturen und wirkten fast wie aus zwei oder drei Einzelteilen zusammengesetzt.
„Was hat du denn mit deinen Fingern gemacht, Bohnenstange? Schaut aus als hättest du dir mal übel die Nagelwurzeln gequetscht!“
Die Veränderung, die während seiner Frage mit ihr vor sich ging, war fast furchteinflößend. Eben hatte sie ihn noch angelächelt, aber mit einem Schlag war es, als hätte sich eine dunkle Wolke vor ihre Netzhaut geschoben, die wie ein riesiger Phagozyt alles in ihr verschlang und sie forttrug an irgendeinen Ort schwarzer Erinnerung.