Читать книгу Die tote Zeugin - Georg Kustermann - Страница 9
Tinnerting, zur gleichen Zeit, etwa zehn Kilometer entfernt
ОглавлениеDie Reifen des langsam fahrenden Kastenwagens knirschten auf dem Schotter des einsamen Forstweges, in der Dunkelheit des dichten Waldes war das schwarze Fahrzeug kaum noch zu erkennen, nachdem es unter tiefhängenden Ästen zum Stehen gekommen war. Genauso dunkel wie das Auto und der Ort, wo es stand, war der große Mann, der ihm entstieg.
Raznan Kostrati verharrte einen kurzen Augenblick neben der geöffneten Fahrertür und ließ wie ein sicherndes Tier seine Augen durch die nahezu undurchdringliche Dunkelheit des Gehölzes wandern. Er hielt den Atem an, was die Geräusche der Nacht herausfilterte und die Stille dazwischen noch tonloser machte. Es war nichts Auffälliges zu hören und auch nichts zu sehen. Der Ort war gut ausgewählt, um die Arbeit, die vor ihm lag, reibungslos abzuwickeln. Und es würde alles glatt laufen! Dafür würde er sorgen. Er war ein Profi und im Gegensatz zu den meisten seiner Berufskollegen hatte er eine gute Ausbildung genossen!
Sein Vater war Mitglied der Securitate, der berüchtigten Geheimpolizei des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu gewesen und war dort am Ende für die Rekrutierung und Ausbildung der Polizisten zuständig, der sogenannten Luptatores – Kämpfer, wie sie intern genannt wurden. Als das Ganze nach der Palastrevolution von 1989 den Bach runterging, waren die goldenen Zeiten vorbei. Unter der nationalen Rettungsfront von Ion Iliescu herrschte ein Schmusekurs, der für richtige Männer in der Polizei keinen Platz mehr ließ.
Vater Ilie Kostrati hatte dies als kluger Mann rechtzeitig vorausgesehen und sich von daher schon beizeiten selbständig gemacht. Er gründete ein kleines, aber feines Familienunternehmen, in welchem er jeden ausbildete, der in seinem Beruf Geld eintreiben, töten, foltern oder verstümmeln musste. Es war eine Sache der Familienehre gewesen, dass er auch seinen einzigen Sohn Raznan frühzeitig in die Schule genommen hatte. Seine Lehrmethoden waren nicht immer angenehm, aber dafür sehr einprägsam gewesen. Raznan hatte schon früh gelernt, keinerlei Gefühle oder gar Mitleid mit seinen Opfern zu haben.
Er war gerade neun Jahre alt gewesen, als er auf dem Hof seiner Eltern, der gleichzeitig als Ausbildungslager diente, einen jungen Hasen versorgte, den er geradezu abgöttisch liebte. Als sein Vater eines Tages zufällig sah, wie sein Sohn das Tier liebevoll fütterte, holte er es aus dem Stall und drehte ihm vor den Augen des entsetzten Jungen den Hals um. Als Raznan daraufhin in Tränen ausbrach, verprügelte ihn sein Vater zunächst mit bloßen Händen, was nicht weiter unüblich war und sperrte ihn anschließend nur mit Unterhosen bekleidet in einen ungeheizten Lagerschuppen mit nacktem Lehmboden. Es war Spätherbst in den Karpaten gewesen und eine Lungenentzündung oder andere bleibende Schäden blieben ihm vermutlich nur deshalb erspart, weil seine Mutter nach 24 Stunden Mitleid mit ihm bekam und ihren Mann anflehte, den kleinen Raznan wieder frei zu lassen.
Wie dem auch sei, Raznan wurde ein guter Kämpfer. Er lernte, wie man Menschen verprügelte, tötete oder zum Reden brachte. Er lernte auch, wie man Menschen mit Schmerzen gefügig machte, ohne ihnen äußerlich sichtbaren Schaden zuzufügen.
Zu seiner Ausbildung gehörte auch theoretischer Unterricht, wobei sich sein Vater den Umstand zu Nutze machte, dass die ganze Menschheitsgeschichte praktisch ein einziges Lehrbuch darüber war, wie man Menschen quälen, misshandeln und psychisch brechen konnte. Die sibirischen Lager des Gulags, die Konzentrationslager des Holocausts, das Foltergefängnis des Pol Pot Regimes oder die mittelalterliche Inquisition. Die Liste hätte beliebig lange fortgesetzt werden können. Offenbar waren der menschlichen Phantasie noch nie Grenzen gesetzt gewesen, wenn es darum ging, Mitmenschen bis zum Äußersten zu peinigen. Alleine die Auszüge aus Alexander Solschenizyns Archipel Gulag widmeten sich seitenweise dem Thema, wie man stolze und scheinbar unbeugsame Menschen, die jeder physischen Folter widerstanden, zerbrechen konnte.
Zu Beginn hatte Raznan die Misshandlung von wehrlosen Opfern nicht unbedingt gefallen, aber er wollte vor allem eines: den Respekt und die Anerkennung seines Vaters gewinnen. Und so war er im Lauf der Jahre dessen gelehrigster Schüler geworden. Und mehr und mehr hatte er sich an der Macht berauscht, die man über einen Menschen hatte, den die Angst bis in den letzten Winkel seiner Seele gefangen hielt. Kontrollierte er die Angst eines Menschen, so kontrollierte er den ganzen Menschen. Manchmal konnte man förmlich zuschauen, wie die Angst die Seele zu Staub zerfallen ließ und dann hatte man diesen Menschen wirklich ganz und gar in seiner Gewalt. Mittlerweile gefiel ihm dieser psychologische Aspekt seines Berufes fast besser als die reine körperliche Gewalt.
Kurz nach dem Millennium starb sein Vater an Krebs und Raznan weitete seinen Aktionsradius mehr und mehr nach Mitteleuropa aus. Arbeit gab es hier mehr als genug, denn die westlichen Anzugträger, als Männer meist nur völlige Memmen, machten zwar gerne dreckige Geschäfte, sich dabei aber nur ungern selber die Hände schmutzig. Raznan hingegen erledigte für Geld alles. Kompromisslos und hocheffizient.
Dank seiner Vorsicht und seines Könnens war er bisher noch nie offen mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und seines Wissens existierte beim BKA weder eine Akte noch ein Fahndungsfoto von ihm. Er hatte sich im Laufe der Jahre ein verlässliches Netz von einigen wenigen korrupten Kollaborateuren und Helfern bei der Polizei in ganz Europa aufgebaut. Diese stellten zwar ein gewisses Risiko dar, waren aber bei vielen seiner Aufträge eine unschätzbare Hilfe. Und Raznan hatte sich stets abzusichern gewusst. Jeden Beamten, den er auch nur einmal gekauft hatte, hielt er fest an der Kandare. Es existierten sorgfältig archivierte Tonaufnahmen oder Videomitschnitte ihrer Käuflichkeit. Wenn ihn einer seiner Maulwürfe hätte auffliegen lassen wollen, so hätte er unweigerlich auch sein eigenes Grab geschaufelt.
Nur ein einziges Mal in den letzten zwölf Jahren hatte einer dieser Zuarbeiter die Nerven verloren und damit gedroht, ihn zu verpfeifen. Sein Tod war eine hässliche Sache gewesen. Raznan hatte ihn mehrere Tage lang gefangen gehalten und langsam sterben lassen. Dann ließ er das Video, das er dabei gedreht hatte, seinen anderen Helfern zukommen. Angst war der Schlüssel zu allem! Bei Bedarf auch ein mehr als probates Mittel, um charakterschwache Menschen loyal zu halten.
Wer seine Arbeit brauchte, wusste normalerweise, wie er mit ihm in Kontakt treten konnte und dabei war es wie in jedem anderen Beruf auch. Es gab gute und weniger gute Aufträge.
Die Arbeit, die er jetzt gerade vorbereitete, würde voraussichtlich eher zu den guten gehören. Als ihn Theodora, die Tochter eines entfernten rumänischen Verwandten vor einigen Wochen um einen Gefallen gebeten hatte, hatte er zunächst gezögert. Persönliche Beteiligung war bei seiner Arbeit nie von Vorteil. Emotionen konnte er hier nicht gebrauchen. Andererseits war der Zusammenhalt der Familie in Rumänien viel wichtiger als hier im Westen und so hatte er schließlich zugesagt, das Geld einzutreiben, um welches Theodora von ihrem Ex-Freund betrogen worden war. Die Sache war also eher eine familiäre Gefälligkeit, als einer seiner üblichen Aufträge. Vielleicht war das der Grund dafür gewesen, dass er sich überhaupt mit seinem Opfer auf Verhandlungen eingelassen hatte, was sonst bei ihm absolut undenkbar war.
Theodora war eine rassige, dunkelhaarige Schönheit und als er ihren Ex zum ersten Mal gestellt hatte, konnte er nicht verstehen, was sie je an so einem Mann gefunden hatte. Der Kerl war ein Schwächling, Raznan hatte seine Angst förmlich riechen können, als er vor ihm stand und in der ihm eigenen nachdrücklichen Art klar machte, dass es keine Alternative zur Zahlung der Schulden gab. Der aalglatte Typ hätte ohne Skrupel seine Seele verkauft, um seine Haut zu retten.
„Hören Sie! Ich zahle meine Schulden und Ihnen das Doppelte dazu. Bitte! Ich weiß, wie wir zusammen an viel mehr Geld kommen!“, hatte er panisch von sich gegeben. Weiter war er nicht gekommen, weil ihn Raznan weg von der Tür in seine schicke Wohnung gedrängt und mit einem Unterarm auf der Kehle gegen die Wand gedrückt hatte. Dabei hatte er ihm nur kalt in die Augen geschaut. Solche Angebote hatte er schon dutzendfach gehört und er war noch nie darauf eingegangen.
„Wenn du deine Schulden zahlst, ist alles gut! Aber zusammen werden wir an gar nichts kommen. Du zahlst nächste Woche oder ich werde beim nächsten Treffen deutlicher werden! Sehr viel deutlicher, verstanden?“
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hatte er ihn noch stärker gegen die Wand gepresst. Aber irgendein idiotischer Zufall hatte gewollt, dass an ebendieser Wand, direkt hinter der Jammergestalt, die er in der Mangel hatte, ein großes Poster gehangen hatte. Normalerweise hätte sich Raznan von so etwas nicht von seiner Arbeit ablenken lassen, aber der Job war Alltagsroutine und auch ein Geldeintreiber war letztlich nichts anderes als ein Mann. Und das Poster zeigte eine Frau. Und was für eine Frau!
Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Wassertropfen perlten über ihre gebräunte Haut, ihre blonden Haare hingen feucht über ihre Schultern und ihr Gesicht war einfach makellos. Volle, perfekt geschwungene Lippen, strahlende Zähne. Über ihren hohen Wangenknochen warfen leicht schräg stehende, türkisblaue Augen dem Betrachter einen Blick zu, der ihm das Blut in die Lenden schießen ließ.
Auch die Schmeißfliege, die er gerade durch die Mangel drehte, hatte trotz aller Panik wohl seinen Blick auf das Bild bemerkt.
„Gefällt … sie … Ihnen …?“, hatte der Typ mühsam unter dem Würgegriff hervorgepresst, während Raznan seine Augen wie gebannt weiter über das Foto wandern ließ. Der winzige Bikini, den sie trug, überließ kaum etwas der Phantasie. Sie war keines dieser ausgehungerten Modepüppchen, sondern hatte den atemberaubend durchtrainierten Körper einer Amazone. Ihre Beine waren endlos lang, sportlich und muskulös. Ihre schmalen aber weiblichen Hüften gingen in eine flache Taille mit deutlich sichtbaren Bauchmuskeln über. Ihre Brüste waren nicht übermäßig groß, aber einfach perfekt geformte Halbkugeln. Auch Ihre Schultern und Oberarme zeigten, was sie hatte: Muskeln und dennoch die schlanke Linie einer unglaublich erotischen Frau.
Bereits im ersten Augenblick, als Raznan diesen unglaublichen Körper gesehen hatte, war er der Frau verfallen.
„… ich … kann … sie ihnen … liefern!“
Die Stimme des schmierigen Anzugträgers war nur noch ein Krächzen gewesen, als Raznan seinen Griff lockerte. Er wollte diese Frau haben! Und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich mit seinem Opfer auf Verhandlungen eingelassen. Er hatte seinen Arm von der Kehle der Kröte genommen und auf das Bild gedeutet.
„Du kannst mir die da liefern?“
Das Kopfnicken der Schmeißfliege war schneller gekommen als ein Teenager beim ersten Sex.
„… Ich … kann sie … liefern …! Und … das Geld dazu!“
Und so war es zu einem Deal gekommen, der alle beteiligten Parteien zufrieden stellen sollte. Theodora würde ihr Geld bekommen, der Typ würde seine Haut retten und er selbst würde sein Geld und die Frau bekommen.
Zwar war es mit viel Aufwand verbunden gewesen, hier in der Umgebung ein geeignetes Versteck zu finden, aber dank gründlicher Recherche entdeckte er zuletzt einen alten Nazibunker an den Nordhängen des Hochgern. Die NS- Größen hatten ihn seinerzeit als Schutzunterkunft für ihre Fahrten zwischen München und dem Obersalzberg anlegen lassen, aber zwischenzeitlich war er verschüttet und vergessen gewesen. Es hatte ihn fast zwei Tage Arbeit gekostet, den Eingang soweit freizulegen, dass er ihn für seine Zwecke benutzen konnte.
Hier würde er sich mit seiner Beute in aller Ruhe beschäftigen können. Bald würde es soweit sein. Im Schutz der Dunkelheit des nachtschwarzen Waldes, der ihn umgab, brachte er seine letzten Vorbereitungen zu Ende. Vorsichtig holte er das leichte Motorrad aus seinem Transporter und legte es quer über den einsamen Feldweg. Anschließend drapierte er die Schaufensterpuppe, die er mit einer Motorradkombi und einem Helm bekleidet hatte, daneben.
Der Rest war einfach. Er musste nur noch sein Fahrzeug etwas aus dem Blickfeld schaffen und warten.