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Cannobio, 2. September

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Michael Stadler fand keinen Schlaf und wälzte sich in seinem Bett unruhig von der einen auf die andere Seite. Er brachte Gollum einfach nicht aus seinem Kopf, obwohl er eigentlich mit der Situation vollauf zufrieden sein hätte können.

Er hatte Patrizia gestern Nachmittag in guten Händen in Locarno zurückgelassen und sie hatte ihn von allen weiteren Verpflichtungen entbunden. Er konnte sich wieder voll und ganz auf sein Training konzentrieren und alles war wie vorher. Aber irgendwie fühlte es sich nicht richtig an. Während er nur daran gedacht hatte, seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen und sie von der Backe zu kriegen, hatte sie es ihm leicht gemacht und ihn kurzerhand weggeschickt. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, hatte Gollum dem Eisenmann tüchtig in die Eier getreten und ihm eine gehörige Lektion in Sachen Rückgrat verpasst.

Sie lag verletzt im Krankenhaus und war völlig auf sich alleine gestellt. Sie hatte weder Verwandte noch Freunde und sie hatte weiß Gott eigene Probleme genug. Dennoch hatte sie an ihn und sein Training gedacht.

„Lebe deinen Traum und zeige denen in Hawaii, was Sache ist!“, hatte sie gesagt. Wenn er etwas wirklich zu schätzen wusste, dann waren das Kampfgeist und Entschlossenheit. Nicht umsonst hatte ihn von jeher der Triathlon in seinen Bann gezogen. Und verdammt noch mal, dieses Mädchen hatte Mumm, richtig Mumm! Sie hatte das Mitleid in seinen Augen gesehen und das wollte sie auf keinen Fall haben.

Aber auf eine eigenartige Art und Weise konnte auch er in ihren Augen lesen und er hatte die Angst in ihrem Inneren gesehen. Eine pechschwarze, abgrundtiefe Angst. Aber er hatte auch einen Willen gesehen, der diese Angst mit so einer besessenen Verzweiflung besiegen wollte, dass es ihm kalt den Rücken hinuntergelaufen war. Bei all ihren Ängsten hatte sie sich letztlich einen Stolz und eine Würde bewahrt, für die er sie nur bewundern konnte. Hinter der bizarren Fassade von Gollum schlummerte ein Wesen, das ihn mehr und mehr in seinen Bann zog und über das er einfach mehr erfahren wollte. Er wollte wissen, was für ein Mensch sie früher gewesen war, was für ein Ereignis ihr Leben so dramatisch verändert hatte.

Er wusste nicht genau warum, aber irgendwie hatte er überhaupt keine Wahl. Sein Schicksal war bereits untrennbar mit dem von Patrizia Bertram verbunden. Sie wollte kein Mitleid, na schön! Dann halt nicht. Dafür würde sie seine Hartnäckigkeit und Sturheit zu spüren bekommen. Seine Sturheit, sie zum Essen und Reden, zum Lachen und Erzählen zu bewegen. Triathleten hatten ein verdammtes Durchhaltevermögen. Er wollte Zeit mit ihr verbringen und er würde sein Training eben um sie herum aufbauen. Und zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte er das vage Gefühl, dass etwas für sein Leben wichtiger werden würde, als bei einem Triathlon zehn Minuten schneller oder langsamer zu laufen.

Der nächste Tag versprach ähnlich schön wie der Vergangene zu werden. Michael stand bereits um fünf Uhr morgens auf und begann den Tag nach italienischen Maßstäben mit einem Sakrileg. Er frühstückte eine große Schüssel kalte, verklebte Pasta vom Vortag, die effektivste Methode, möglichst schnell möglichst viele Kohlenhydrate für einen langen Trainingstag zu sich zu nehmen. Bereits um sechs Uhr saß er auf seinem Rennrad und so konnte er die sonst dicht befahrene Küstenstraße zwischen Cannobio und Verbania noch fast autofrei im herrlichen Licht der Morgensonne unter die Räder nehmen. Die Aktion Training plus Patrizia war gestartet. Er hatte heute den Simplonpass zum Ziel, der das Tessin vom oberen Rhonetal trennt.

Die über einhundertvierzig Kilometer lange Rundtour würde ihn nach dreitausend Höhenmetern auf seinem Rückweg ohnehin durch Locarno führen. Seiner Marschtabelle nach müsste er dort am späten Vormittag einlaufen und vielleicht wäre Patrizia dann schon aus dem OP zurück. Exakt um zehn Minuten nach zehn stellte er seine Maschine vor dem Haupteingang des Ospedale ab und erkundigte sich auf der Chirurgie nach Patrizia. Die diensthabende Schwester wusste sofort Bescheid.

„Sie sind ein Angehöriger von Frau Bertram? Das trifft sich gut! Wir haben morgens noch einen Unfall hereinbekommen und daher war der Eingriff ein bisschen später. Frau Bertram ist noch im Aufwachraum, aber Dr. Gorelli ist gerade aus dem OP gekommen und er suchte ohnehin einen Angehörigen, mit dem er reden kann.“

„Wieso? Gab es irgendwelche Probleme?“

Michael wischte sich mit Papierhandtüchern aus der Toilette den Schweiß aus den Augen, der noch immer von seiner Stirn lief.

„Das kann ich ihnen leider nicht sagen, aber wenn sie mich begleiten, dann bringe ich sie in den Bereitschaftsraum und sie können mit Dr. Gorelli selbst sprechen.“

Fünf Minuten später saß Michael Dr. Luca Gorelli gegenüber. Er war ein großer hagerer Mann mit heller Haut, aber rabenschwarzen Haaren, die an der Stirn bereits etwas licht zu werden begannen. Er hatte eine große Hakennase, dunkelbraune Augen, die durch eine große Metallbrille blickten und mochte etwa zwischen fünfundvierzig und fünfzig Jahren alt sein. Typisch für einen Chirurgen war seine Art ruhig und bedächtig. Als Erstes bot er Michael einen Espresso an. Aus einem etwas altersschwachen Saeco-Kaffeevollautomaten ließ er zwei Tassen volllaufen und gab zwei Gläser Wasser und zwei Schoko-Plätzchen dazu. Dann wandte er sich an Michael.

„Sind sie mit Frau Bertram verwandt oder ihr Lebensgefährte?“

„Weder noch! Ich habe sie vorgestern rein zufällig auf einer Bergtour mit ihrem gebrochenen Knöchel getroffen und mich darum gekümmert, dass sie hierher zu ihnen kommt. Ich bin ein guter Freund von Marcel Scolli und er hat Sie mir empfohlen. Wenn Sie allerdings Angehörige von Patrizia suchen, werde ich Sie enttäuschen müssen. Meines Wissens hat sie hier in der Gegend niemanden.“

„Das deckt sich auch mit ihren Angaben in unserem Anamnesebogen“, seufzte Dr. Gorelli.

„Somit dürfte ich ihnen gemäß meiner Schweigepflicht eigentlich keine Auskünfte erteilen, aber da sie offensichtlich hier ihre einzige Bezugsperson und überdies ein Freund von Marcel sind, werde ich die Vorschriften wohl ignorieren. Um ehrlich zu sein, mache ich mir um Frau Bertram einige Sorgen.“

„Aber laut Röntgenbefund war es doch ein völlig unkomplizierter Bruch, oder etwa nicht?“

„Der Bruch war ja auch überhaupt kein Problem. Glatte Weber B-Fraktur der Fibula. Das hintere Syndesmoseband war intakt und das vordere glatt von der Tibia abgerissen. Ich konnte alle Defekte problemlos mit Osteosyntheseschrauben fixieren. Gehgips, etwa vier Wochen eingeschränkte Belastung mit zwei Krücken, weitere zwei Wochen reduzierte Belastung ohne Gips mit einer Krücke und alles sollte wie neu sein. Viel Druck bekommt der Fuß ohnehin nicht bei ihrem Fliegengewicht. Aber genau das ist eigentlich der Punkt, über den ich mit ihnen sprechen wollte. Frau Bertram ist hochgradig magersüchtig.“

Als ob Michael das nicht schon selbst bemerkt hätte.

„Ob es sich bei ihr um eine klassische Anorexia Nervosa oder eine eher depressionsbedingte Essstörung handelt, liegt nicht in meinem diagnostischen Feld. Ich bin nur Chirurg. In jedem Fall sind die reinen Zahlen alarmierend. Sie wiegt bei einer Größe von einsneunundsiebzig gerade mal dreiundvierzig Kilo und auch die Knochendichtemessung zeigt bereits eine beginnende mangelernährungsbedingte Osteoporose. Sie gehört in jedem Fall schnellstmöglich in eine Therapie. Unbehandelt kann die Anorexie in extremen Fällen bis zum Tod führen.“

„Und was schlagen Sie vor?“

„Ich schlage gar nichts vor. Wie gesagt, ich bin nur Chirurg. Und eine Einweisung in eine Klinik für Essstörungen gegen ihren Willen geht ohnehin nicht. Ich habe sie hier bei uns jetzt unter dem Vorwand der OP-Vorbereitung an den Tropf gehängt. Momentan bekommt sie intravenös Kalorien satt. Aber sie braucht jemanden in ihrem Umfeld, der sie entweder zum Essen überredet oder noch besser in eine Therapie schickt. Sonst sehe ich für ihre Zukunft schwarz!“

„Entnehme ich Ihren Worten, dass Sie bei diesem Jemand an mich denken?“

Der Anflug eines Lächelns überzog das bisher eher ausdruckslose Gesicht des Arztes.

„Irgendwie ihr Pech, dass Sie der einzige sind, der da ist.“

Michael hob die Augenbrauen und blies hörbar die Luft aus seinen Lungen.

„Was soll ich denn da machen Doc. Ich hatte zwar bereits vor dem Gespräch mit ihnen beschlossen, mich ein wenig um Patrizia zu kümmern, aber ich bin kein Psychotherapeut. Ich glaube nicht, dass ich bei ihrer Essstörung irgendetwas erreichen kann.“

Die dunklen, freundlichen Augen des Chirurgen erwiderten seinen besorgten Blick nicht minder nachdenklich.

„Da habe ich leider auch kein Patentrezept und das erwarte ich auch nicht von ihnen. Aber mir geht es als Arzt einfach besser, wenn ich vor solchen Befunden nicht einfach die Augen verschließe. Deshalb wollte ich sichergehen, dass jemand ein wenig nach Frau Bertram schauen wird. Überzeugen Sie sie, professionelle Hilfe hinzuzuziehen. Sollten sie dafür eine Überweisung oder Ähnliches brauchen, dürfen sie sich jederzeit an mich wenden.“

„Können sie schon sagen, wann sie entlassen wird?“

„Wenn heute keine Nachwirkungen der Narkose auftauchen, kann sie morgen nach der Visite schon wieder nach Hause. In meiner Abteilung werden keine Leute hierbehalten, nur weil sie privat krankenversichert sind.“

Bei diesen Worten zwinkerte er Michael lächelnd zu und die beiden Männer verabschiedeten sich, nicht ohne eine gewisse Portion Hochachtung voreinander.

Auch nach dem Gespräch mit Dr. Gorelli war Gollum noch nicht aus dem Aufwachraum zurück. Nach kurzem Überlegen beschloss Michael für sich, dass er nicht auf sie warten, sondern heute noch ihren Wagen in Falmenta holen würde. Er hatte ohnehin immer noch ihre Autoschlüssel, die sie ihm gestern gegeben hatte, er brauchte jetzt einfach noch zwei, drei Stunden auf dem Rennrad zum Nachdenken.

Sie war hier im Krankenhaus gut versorgt und vielleicht tat ihr nach dem emotionalen Abschied von gestern ein Tag Pause noch ganz gut. Er würde sie einfach morgen unangemeldet abholen und dann würde er die nächsten Tage auf sich zukommen lassen. Nur nichts kompliziert und gefühlsduselig machen. Das konnte sie wohl am allerwenigsten brauchen. Bereits zwanzig Minuten später hatte er Locarno wieder hinter sich gelassen und schnurrte mit dicker Übersetzung auf der kleinen Nebenstraße etwa hundert Meter oberhalb des Seeufers zurück Richtung Valle Cannobina.

Die tote Zeugin

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