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Irgendwo, 31. August

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Völlige Dunkelheit umfing Steffi, als sie langsam wieder zu sich kam. Die Welt wankte leicht hin und her und sie fiel von irgendwo oben nach unten und landete gleichsam in einem riesigen Wattebausch. Errol Garner’s Misty hallte immer noch in ihrem Kopf nach. Zunächst fühlte sich alles an wie in einem Traum, aus dem sie nur schlecht aufwachen konnte. Sie konnte ihre Hände nicht bewegen und wartete auf das Hochschrecken aus ihrem nassgeschwitzten Kissen.

Durch den immer noch klebrig-süßlichen Geruch in Mund und Nase und weil sie ihre Augen auch mit aller Gewalt nicht öffnen konnte, verdichtete sich der anfängliche Verdacht, dass irgendetwas nicht stimmte, mehr und mehr zu einer klumpenähnlichen Gewissheit. Ihr war leicht übel und ihre Welt drehte sich, als sie fast ein wenig überrascht feststellte, dass sie sich mit ihrem Oberkörper aufrichten konnte. Einer kurzen Hoffnung folgend suchte sie fieberhaft in ihrer Erinnerung, auf welcher Party sie gestern wie viel Alkohol getrunken haben könnte, als mit einem fast brutalen Aufflackern das Bild des Motorradfahrers auf der nächtlichen Straße wieder in ihr Bewusstsein driftete.

Mit einem Schlag war ihr Körper voller Adrenalin, die Erkenntnis, dass dies alles Wirklichkeit war, traf sie wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Ihre Hände waren mit irgendetwas Unlösbarem auf ihrem Rücken gefesselt, sie saß auf irgendetwas, irgendwo! Gefangen! Es konnte und es durfte nicht sein! Sie wartete verzweifelt auf eine Art Aufwachen. Aber es änderte sich nichts, alles blieb, wie es war. Sie war gefangen!

Sehen, sie musste sehen – aber irgendein klebriges Band war um ihren Kopf herum unlösbar straff über ihre Schläfen und Augen geklebt. Sie tat das einzige, was sie tun konnte. Sie robbte sitzend vorsichtig nach vorne und tastete mit ihren Beinen ihre Umgebung ab.

Sie trug keine Schuhe mehr, so spürte sie links eine Stein- oder Betonwand, rechts einen Abgrund, unter dem sie mit ihrem Fuß den Boden ertasten konnte. Langsam stand sie in der Dunkelheit auf und begann zu gehen. Nach etwa vier oder fünf vorsichtigen Schritten auf nacktem Steinboden stieß sie auf eine Betonwand, der sie nach links folgte. Sie begann ihre Schritte zu zählen. Vier vorsichtige Schritte – Ecke, sechs Schritte – wieder Ecke. Nach zwei weiteren Schritten entlang nackter Steinwände stieß sie mit ihrem Knie auf eine Kiste aus Plastik, dahinter wieder an ihr Lager. Sie konnte mit ihren auf den Rücken gefesselten Händen darauf eine Art Matratze ertasten. Keine Decke, nichts weiter.

Die Kiste stellte sich bei näherer Untersuchung als eine Art Chemietoilette heraus, wie sie Steffi aus Wohnwägen kannte. Am Kopfende ihres Lagers eine Art Tischchen, nicht viel breiter als ihre Hüften. Unmittelbar daneben eine raue Holztüre, deren Klinke sie zwar ertasten und herabdrücken konnte, die sich aber keinen Millimeter bewegen oder gar öffnen ließ.

Mehr war nicht in dieser Zelle. Es blieb, wie es war. Sie war gefangen! Sie hockte sich wieder auf ihre Pritsche und wartete. Zunächst war in ihrem Kopf nur kalte, gähnende Leere, aus deren Schwärze ganz langsam erste einzelne Gedanken in ihr Gehirn tropften.

Was um alles in der Welt war passiert?

War sie entführt worden?

Ein Gedankenkarussel begann sich schnell und schneller zu drehen.

Wer konnte sie entführt haben?

Wo war sie?

Warum war sie entführt worden?

Lösegeld! Ja, nur das konnte es sein!

Sie war ja jetzt reich, sie war sich dessen immer noch nicht richtig bewusst!

Sie war mittlerweile berühmt. Und Berühmte wurden entführt!

Carsten!

Ihre Entführer würden Carsten anrufen und Carsten würde das Lösegeld zahlen!

Dann würde man sie wieder freilassen!

Nagende Zweifel.

Oder würde man sie umbringen?

Manchmal wurden Entführungsopfer auch umgebracht!

Dann begann das Spiel von neuem:

Wer konnte sie entführt haben?

Wo war sie? …

Eine endlose Spirale ohne Antworten und ohne Ausgang, die sich immer schneller drehte. Irgendwann erinnerte sie sich an ihr Training am Biathlon-Schießstand und sie schaffte es tatsächlich, ihren wild schlagenden Puls etwas herunterzufahren und ruhiger nachzudenken.

Sie war ein harter Hund! Schon in der Loipe hatte sie immer bis zum Umfallen kämpfen können. Sie würde nicht aufgeben, sie würde kämpfen! Ja sie würde kämpfen! Sie würde mit ihren Entführern reden. Sie hatte irgendwann einmal gehört, dass man mit Gewaltverbrechern reden musste. Solange sie redeten, töteten sie nicht. Verdammt noch mal, sie würde es schaffen!

Irgendwann durchdrang ein monotones Geräusch die Stille ihrer Dunkelheit. Schritte, das waren Schritte! Jemand näherte sich. Steffis Herz begann wieder wild zu schlagen, sie richtete sich auf ihrer Pritsche auf. Jetzt würde sie gleich erfahren, mit wem sie es zu tun hatte.

Ein Riegel wurde verschoben und ein ächzendes Knarren verkündete das Öffnen der Tür.

Zunächst nur ruhiges Verharren, gleichmäßige Atemzüge. Reden, sie musste reden!

„Was wollen Sie?“, ihre eigene Stimme klang wie ein verzerrtes Krächzen.

Keine Antwort, nur unerträgliche Stille und diese schweren Atemzüge, welche durch die unbarmherzige Dunkelheit ihrer Augenbinde wie ein drohendes Sturmtief in ihren Ohren klangen. Sie konnte es fast körperlich spüren, wie sie angestarrt wurde. Irgendwann konnte sie die Lautlosigkeit nicht mehr ertragen.

„Bitte, was wollen sie?“

Ihre Stimmbänder versagten vor Anspannung fast ihren Dienst.

Die Antwort kam mit brutaler Direktheit in Form grober, massiger Hände, die sie an den Schultern packten und von der Pritsche zerrten. Sie drohte zu fallen, hing wie ein nasser Lappen in der Faust, die ihren Oberarm umklammerte. Dann wurden die Fesseln ihrer Hände durchtrennt und sie konnte endlich ihre eingeschlafenen Arme wieder bewegen.

„Zieh dich aus, Puppe!“

Nein, verdammt nein! Bitte keine Vergewaltigung!

Ein Horrorszenario zuckte in Sekundenbruchteilen durch Steffis Hirn. Wirre Gedankenfetzen blitzten durch ihren Kopf. Doch gleichzeitig versuchte sie sich gegen das zu wappnen, was ihr offenbar drohte.

Nicht schreien! Schreien nimmt die Distanz.

Sie hatte irgendwo gelesen, dass Vergewaltigungsopfer das Ganze überstanden hatten, weil sie sich von ihrem Körper distanziert hatten.

Eine Mauer zwischen Seele und Körper! Er konnte ihren Körper haben, aber mehr würde er nicht bekommen. Sie würde kämpfen!

„Los jetzt! Zieh dich aus! Mach!“

Was blieb ihr übrig? Steffis Knie zitterten, als sie ihr Top und ihre Shorts ablegte. Nur in Slip und BH stand sie vor irgendjemand, den sie nicht sehen konnte. Ein abstoßender Laut kam aus seiner Kehle.

„Gut so Puppe! Schaut besser aus für deinen Freund, wenn er dich so sieht! Und jetzt erzählst du ihm, dass es dir gut geht und dass er alles machen soll, was von ihm verlangt wird!“

Steffis Knie gaben fast unter ihr nach vor Erleichterung.

Eine Videobotschaft! Keine Vergewaltigung, nur eine Videobotschaft! Er wollte nur Lösegeld. Sie würde es schaffen!

„Sag deinem Freund, dass er nur den Anweisungen auf diesem Band folgen und einfach das machen soll, was verlangt wird. Sag das jetzt!“

Offensichtlich ließ er ein Handy oder eine Kamera vor ihr laufen. So wiederholte sie mit heiserer Stimme die Botschaft, die er vorgesprochen hatte, nicht ohne noch ein flehendes “Bitte Carsten!“, hinzuzufügen.

„Gut so, Puppe! Hier steht Wasser zum Trinken!“

Noch ein paar kurze Geräusche im Raum, dann vernahm sie das Schließen der Tür, sie war wieder allein. Zumindest waren jetzt ihre Hände nicht mehr gefesselt. Reflexartig griff sie nach ihrer Augenbinde, um endlich etwas sehen zu können. Sie zerrte bereits an dem Klebeband, hielt aber einer Eingebung folgend inne.

Er hatte ihre Augen verbunden gelassen. Noch hatte sie ihn nicht gesehen! Wenn sie ihn später nicht identifizieren konnte, würde er sie bestimmt freilassen!

Obwohl der Drang, etwas zu sehen, fast übermächtig war, ließ sie ihre Hände wieder sinken und plötzlich spürte sie das Frösteln, das jetzt ihren Körper schüttelte. Vorsichtig kniete sie sich auf den Boden und begann ihre Hose und ihr Top zu suchen. Nichts, er hatte sie mitgenommen.

Dann tastete sie ganz vorsichtig nach dem Tischchen und fand darauf eine große Plastikflasche. Sie schraubte sie auf und trank in gierigen Schlucken, um endlich den widerlichen Geschmack des Ätherlappens ihrer nächtlichen Betäubung loszuwerden. Wie spät mochte es mittlerweile sein? Sie hatte keine Ahnung. Dann kroch sie wieder auf ihre Pritsche und wartete … und hoffte … und hatte Angst!

Carsten würde zahlen. Bestimmt! Aber würde er sie dann freilassen, oder würde er sie töten?

Die Gedankenspirale war immer wieder dieselbe. Durch die andauernde Dunkelheit dehnte sich die Zeit wie ein formloser zäher Gummi, der immer länger wurde und nirgends ein Ende fand. Ein halber Tag, ein ganzer Tag? Sie verlor das Gefühl dafür, aber das Warten und die Einsamkeit schufen Raum für Angst! Aber zum Glück hatte sie noch keine Vorstellung von dem Martyrium, das ihr die nächsten Tage bevorstehen sollte!

Irgendwann wieder diese Schritte im Nachhall der Stille und wieder das Ächzen der Tür. Noch bevor Steffi sich aufrichten konnte, packte sie eine Hand mit Eisengriff am Nacken und begann grob, ihr das Klebeband von den Augen und den Haaren zu reißen. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte sie in das Licht einer grellen Lampe, die er auf den Tisch gestellt hatte.

Dann sah sie ihn zum ersten Mal. Er war ein Riese, massig, nicht dick, aber ungemein kräftig und groß. Sehr groß. Er wirkte militärisch, wie ein Elitekämpfer, ein riesiger Soldat. Er hatte raspelkurzes, rabenschwarzes Haar über einem breiten Gesicht mit südländisch dunkler Haut. Ein schwacher Bartschatten schimmerte über seinem markanten Kinn, darüber ein Mund mit leicht wulstigen Lippen und eine flache, breite Nase. Darüber: Augen! Dunkle, fast schwarze, ausdruckslose Augen! Er ging einen Schritt zurück und starrte sie an, fast verzerrte sich sein Mund zu einem zynischen Grinsen. Steffi würgte ihre Angst hinunter.

Kämpfen, sie würde kämpfen!

„Wir werden uns jetzt ein wenig die Zeit vertreiben, Puppe.“

Steffis schlimmste Angst verdichtete sich.

Nur meinen Körper! Keinen Zollbreit mehr! Nur meinen Körper!

Bevor sie auch nur eine Bewegung machen konnte, hatte er sie mit Eisenfäusten gepackt und zurrte ihre Handgelenke mit langen Kabelbindern am Eisengestell ihrer Pritsche fest. Steffi versuchte gar nicht, sich zu wehren, weil sie wusste, dass es sinnlos gewesen wäre. Ebenso verfuhr er mit ihren Beinen, so dass sie binnen kurzer Zeit an allen Vieren gefesselt quer ausgestreckt vor ihm auf der Pritsche lag.

Fast emotionslos riss er ihr mit zwei kurzen Handgriffen Slip und BH vom Körper, dann starrte er sie mit undurchdringlicher Miene an. Und die Angst begann wie ein Geschwür durch ihre Eingeweide zu kriechen.

Schau ihn nicht an! Schau ihn nicht an! Nur meinen Körper! Nicht mich!

Er begann in aller Ruhe sein Hemd auszuziehen. Sein Oberkörper zeigte massige Muskeln und war dicht behaart.

„So Puppe, jetzt wirst du genau das machen, was ich dir sage, und du wirst dich anstrengen dabei, glaub es mir.“

Wild entschlossen schüttelte sie ihren Kopf und wappnete sich auf was auch immer.

Nie im Leben! Mach mit mir, was du willst, aber freiwillig mache ich hier bestimmt nichts!

Gefährlich ruhig setzte er sich neben sie auf die Pritsche.

„Keine Angst, ich werde dich nicht schlagen, ich möchte dein wunderschönes Gesicht und deinen perfekten Körper so haben wie sie sind!“

Er zog eine kleine Schachtel mit langen Nadeln aus der Tasche und einen unscheinbaren kleinen Holzklotz. Sie verfolgte seine Bewegungen wie in Zeitlupe.

„Glaub mir Puppe, du wirst dich anstrengen und ich werde dir auch gleich zeigen warum!“

Noch während sie wieder ihren Kopf schüttelte, packte er mit eisernem Griff ihren linken Zeigefinger und setzte präzise eine der langen Nadeln unter ihrem Fingernagel auf. Noch bevor sie auch nur begriff, was er vorhatte, trieb er die Nadel mit einem einzigen trockenen Schlag des Holzklotzes unter ihrem Nagel hindurch, quer durchs Nagelbett in voller Länge bis zum ersten Gelenk in ihren Finger hinein. Der Schmerz kam mit etwas Verzögerung, fast wie in Zeitlupe, aber dann explodierte er mit solcher Wucht unter ihrer Großhirnrinde, dass es ihr die Luft aus den Lungen trieb …

Die tote Zeugin

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