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Monte Zeda, 1. September, zwei Jahre später

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Der Zauber des wunderschönen Sonnenaufgangs wirkte nach.

Michael hatte etwas gesehen. Irgendwo weit unter der Oberfläche von Angst und Panik dieser großen Gollum-Augen hatte er etwas gesehen. Er konnte es zuerst nicht klar deuten, aber je weiter er in die endlose Tiefe dieser meerblauen Augen hineingetaucht war, desto mehr hatte er das eigenartige Gefühl gehabt, in ihnen wie in einem offenen Buch lesen zu können.

Er hatte eine Sehnsucht gesehen. Eine Sehnsucht, zu leben. Dieses Leben in all seinen Facetten, mit all seinen unvergleichlichen Augenblicken zu leben. Eine Sehnsucht, die so verletzlich und zerbrechlich war wie eine schwer greifbare Erinnerung, aber gleichzeitig so stark und unauslöschlich, dass sie einen Menschen alles, aber auch alles ertragen lassen konnte. Er selbst hatte diese Sehnsucht oft als die Urlust am Leben bezeichnet, aber noch nie war sie ihm auf so anrührende Weise begegnet wie in den Tiefen dieser Augen.

Patrizia war überrascht gewesen, wie viel Verstehen sie in den Augen dieses großen, blonden Mannes gesehen hatte. In den Sekunden, in denen ihre Augen miteinander verschmolzen waren, hatte sie hinter seiner Fassade von flapsigen Sprüchen eine eigenartige Verbundenheit gespürt, die scheinbar mühelos ihr Sehnen nach einem normalen Leben verstanden hatte. Eine eigenartige, lange nicht mehr gekannte Ruhe war dabei in sie geströmt.

Irgendwann verließen sie den Platz, der soeben zwei fremde Menschen einander so eigenartig nahegebracht hatte, und begannen schweigend ihre wenigen Sachen zusammenzupacken.

„Ich habe nachgedacht“, verkündete Michael.

„Die Lage ist genau wie gestern. Entweder ich laufe alleine runter und schicke dir die Bergrettung, oder ich trage dich runter. Bergrettung oder gar Helikopter zahlst du in Italien sicher selber, das wird also teuer. Plan B wäre, dass du deinen Rucksack opferst und wir daraus ein einfaches Tragegestell basteln. Habe ich schon mal gemacht, geht ganz gut.“

„Wie willst du das anstellen?“

„Ich habe gestern gesehen, dass du auch ein kleines Taschenmesser dabeihast. Wir schneiden seitlich zwei Löcher in den Rucksack, du schlüpfst in das Ding rein wie in eine kurze Hose und simsalabim – die Tragehilfe ist fertig. Was meinst du?“

Patrizia hatte sich selber auch schon Gedanken zum bevorstehenden Abstieg gemacht, nur war ihr noch keine echte Lösung eingefallen. Konnte Michael Stadler sie wirklich den ganzen Weg hinunterschleppen? Obwohl! Gestern Abend war sie erstaunt gewesen, wie locker er sie zum Bivacco hinaufgetragen hatte und wie wenig die körperliche Nähe zu ihm gestört hatte. Mit dem Rucksack als zusätzliches Tragegestell konnte das tatsächlich funktionieren.

„Wenn es dir nicht zu viel ist, können wir das mit dem runter Tragen schon versuchen. Notfalls kannst du mich ja auch weiter unten absetzen und dann Hilfe holen!“

„Keine Angst, Bohnenstange, so viel wiegst du nicht, das traue ich mir schon zu. Dann habe ich heute zumindest eine kleine Trainingseinheit, normalerweise wäre heute der Simplonpass mit dem Rennrad fällig gewesen.“

„Tut mir wirklich leid, dass ich deinen Trainingsplan so durcheinanderbringe“, meinte Patrizia ehrlich betreten.

„Kein Problem! Machst du ja schließlich nicht mit Absicht, ist halt so. Also komm! Packen wir an!“

Zehn Minuten später saß Patrizia in der Behelfskraxe. Es konnte und durfte im Grunde nicht sein, aber es war wie es war. Sie umarmte einen wildfremden Mann. Ihre Beine baumelten seitlich herab, sie hatte ihre Arme von hinten um Michaels Schultern gelegt und klammerte sich an ihm fest. Es war erstaunlich, mit welchem Tempo und welcher Trittsicherheit er den Pfad hinunterlief. Michael Stadler hatte nicht übertrieben. Er war ein lupenreiner Leistungssportler. Sie hatte ja gestern Abend schon einen unvermuteten Blick auf seinen austrainierten, athletischen Körper werfen können, während er sie abwärts trug, fühlte sie die Kraft in seinen muskulösen Schultern und Armen.

Sie spürte, wie er mit der Routine des erfahrenen Sportlers einen gleichmäßigen Atemrhythmus fand. Längst verblasste Erinnerungen an ihre eigenen Sportzeiten lebten wieder auf. Erinnerungen an die Loipe, das Atmen beim Laufen und das verzweifelte Bemühen am Schießstand den Puls zu kontrollieren.

Mein Gott, wie weit war das alles weg! Bilder aus einem anderen Leben. Sie hatte tatsächlich einmal ein normales Leben geführt. Schule, Sport, Lachen mit Freunden, einfach Lust und Spaß am Leben. Nichts von alledem war jetzt noch übrig.

Genau zwei Jahre war es jetzt her, dass sechs Tage ihr altes Leben buchstäblich in Fetzen gerissen hatten. Sechs Tage, die sie zwar körperlich überlebt hatte, die aber von ihrem Wesen so wenig übrig gelassen hatten, dass sie den Menschen, der sie einmal gewesen war, bis heute vergeblich suchte. Sechs Tage, die ihr eine neue Identität und eine Einweisung in die Psychiatrie eingebracht hatten. Und eine vermutlich lebenslange Angst vor einem Menschen, der immer noch irgendwo frei herumlief.

Bereits am ersten Tag im Krankenhaus hatte sie das Pflegepersonal in den Wahnsinn getrieben, weil sie keine Sekunde mehr in Dunkelheit verbringen wollte. Seitdem hatte sie praktisch keine einzige Nacht im Dunkeln geschlafen.

Man kann Traumen aufarbeiten …

Man kann sich seinen Ängsten stellen …

Man kann lernen, sich anderen Menschen wieder zu öffnen …

Keinen dieser Verhaltensratschläge hatte sie je wirklich umsetzen können. Die ersten Wochen in der Klinik hatte sie sich ernsthaft bemüht, zu kämpfen. Sie wollte möglichst schnell wieder in ein normales Leben zurückfinden. Aber einige Dinge hatte sie völlig unterschätzt. Therapie bedeutete zu reden und irgendwann kam die Frage nach den Dingen, die ihr widerfahren waren. Und damit begann ihr Problem.

Sie konnte auch beim besten Willen nicht über das sprechen, was sie erlebt hatte. Es ging einfach nicht! Es war wie ein körperlicher Schutzmechanismus. Über das Grauen zu reden, hätte bedeutet, es noch einmal erleben zu müssen. Wie zwei schwarze Löcher ohne Grund schlummerte tief in ihr das Bild von zwei kalten, ausdruckslosen Augen. Ein Bild, das panisch den Zugriff auf jede Erinnerung verwehrte.

Trotz des Zuspruchs der Therapeuten, trotz des Wissens, dass Aufarbeiten nur durch Reden möglich sein würde, hatte sie diese Wand noch nie überwinden können. Sie hatte noch nie mit irgendjemandem über diese sechs Tage geredet. Sie hatte auch noch nie jemandem erzählt, wie es ihr gelungen war, zu überleben und zu entkommen.

Ihr Bewusstsein unterdrückte jede Erinnerung daran sofort. Ihr Unterbewusstsein nicht! In ihren Albträumen durchlebte sie das Grauen bruchstückhaft immer wieder. Manchmal war es ganz erträglich, aber es gab Phasen, in denen sie praktisch jede Nacht schweißgebadet erwachte, weil sie wieder in den schwarzen Tunnel des Schreckens eingetaucht war. Dann begannen die Essstörungen. Früher hatte sie leidenschaftlich gerne gegessen, aber das war lange vorbei.

Bereits während ihrer Gefangenschaft und der Tage im Krankenhaus hatte sie ziemlich an Gewicht verloren, als sie eines Tages im Spiegel bemerkte, dass sie begann, ihre weiblichen Attribute zu verlieren, wurde geradezu eine Manie daraus. Als Sportlerin und Model hatte sie gelernt, ihren Körper so zu formen wie sie ihn brauchte und jetzt wollte sie nur noch eines: Sie wollte einen Körper, den kein Mann mehr auch nur eines Blickes würdigte.

Mit der gleichen Konsequenz, mit der sie früher trainiert hatte, verweigerte sie jetzt die Nahrungsaufnahme oder erbrach sich wieder, wenn sie tatsächlich einmal mehr gegessen hatte. Sie bestrafte ihren Körper dafür, dass er sich ihrem Peiniger angeboten hatte, und sorgte dafür, dass er nie wieder einem Mann gefallen würde.

Nach ihrer Überweisung in eine Klinik für Essstörungen begann das Spiel von neuem. Gespräche über die Motive ihrer Selbstbestrafung. Forschen nach den Ursachen des seelischen Traumas. Aber gerade das war es, was sie nicht konnte oder wollte. Über das Grauen ihrer Erinnerung reden. Der Teufelskreis war geboren, nach einigen Monaten war sie überzeugt, dass sie in den Kliniken keinen Weg zurück in die Normalität finden würde. So hatte sie die Therapie abgebrochen und sich auf eigene Faust auf die Suche nach einem neuen Leben gemacht. Ein Weiterleben im Chiemgau stellte dabei aus verschiedenen Gründen überhaupt keine Option dar.

Sie hatte seinerzeit in einer Art Zeugenschutzprogramm vom BKA eine neue Identität erhalten. Sie war prominent, hatte ihren „Mörder“ gesehen, hatte überlebt und von diesem fehlte jede Spur, ja es gab nicht den kleinsten Hinweis auf seine Identität. Hätte er erfahren, dass sie noch lebte, wäre ihr Leben hochgradig gefährdet gewesen. Also musste Stephanie Seiler sterben und Patrizia Bertram wurde geboren.

Nur ihr Vater, Claudia Keller und Carsten Winhold waren unter dem Siegel äußerster Verschwiegenheit eingeweiht worden. Ihr Vater hatte das Schicksal seiner Tochter eigenartig gefühllos aufgenommen. Er war ohnehin nie fähig gewesen, mit ihr über Gefühle oder ihr Seelenleben zu reden. Und in ihrer damaligen Verfassung fühlte sich auch Patrizia überhaupt nicht in der Lage dazu, ausgerechnet jetzt eine tiefere Beziehung zu ihm aufzubauen.

Carsten war in dem Moment, als es wirklich darauf ankam, die größte Enttäuschung gewesen. Bei seinem ersten Besuch im Krankenhaus drei Tage nach ihrer Rückkehr aus der Hölle, hatte sie sich so sehr gewünscht, von ihm Zuwendung, Verständnis und Trost zu bekommen. Völlig entsetzt über ihren Zustand hatte Carsten nur betreten an ihrem Bett gestanden, sie weder berührt oder gar umarmt, sondern nur irgendetwas über die gescheiterte Lösegeldübergabe gefaselt, dem Patrizia ohnehin nicht folgen konnte. Bei seinem zweiten Besuch am Tag darauf hatte er lediglich erklärt, dass er ja sowieso nicht mehr mit ihr in Verbindung gebracht werden dürfe, um ihre neue Identität nicht zu gefährden, ihr viel Glück gewünscht und … das war’s dann gewesen. Wenn sie noch irgendeinen Rest an Hoffnung und Gefühl in sich gehabt hatte, so war dieser an jenem Tag endgültig gestorben.

Ihre größte Stütze und eigentlich einzige Vertraute blieb ihre Freundin Claudia. Diese verbrachte in den ersten Tagen viel Zeit an ihrem Bett, war einfach da. Aber im Spiegel der erschütterten Augen ihrer besten Freundin konnte Patrizia auch erkennen, dass von der alten Stephanie Seiler praktisch nichts übriggeblieben war. Aus der lebensfrohen, selbstbewussten Schönheit von einst war ein neurosengeschüttelter Haufen voller Angst geworden.

Weitere Freunde aus ihrer Sport- oder Schulzeit einzuweihen hätte das gesamte Schutzprogramm gefährdet, ganz am Anfang hatte sie auch gar kein Bedürfnis nach alten Bekannten gehabt, weil dies unweigerlich mit Fragen, Fragen und nochmals Fragen verbunden gewesen wäre. Aber bereits nach wenigen Wochen in der Therapie wurde ihr schmerzhaft bewusst, dass man ein ganzes Leben nicht einfach so ablegen konnte wie getragene Unterwäsche. Je mehr sie aus dem Albtraum ihrer Entführung wieder erwachte, desto mehr begann sie, sich nach Normalität und ihrem Leben zurückzusehnen. Es war nicht so sehr das Jet-Set Leben des Models, das ihr fehlte. Nein, sie vermisste ihre alten Freunde, ihre Sportkameraden und ihre vertraute Chiemgauer Umgebung.

Auch Claudia konnte sie nicht beliebig oft besuchen, weil diese in ihrem Bekanntenkreis mit ihrem Wissen alleine war. Nicht einmal deren Lebensgefährte Tom war eingeweiht. Also gab es keinen Weg zurück.

Steffi Seiler war tot, doch die Panik, ihren Peiniger wieder auf sich aufmerksam zu machen, beherrschte immer noch ihr ganzes Denken und Sein. Dieser kleine Funke Hoffnung, dass er Patrizia Bertram nicht finden würde, ließ sie auch die schwärzesten Nächte ihrer Einsamkeit ertragen. Und gerade in dieser Zeit wurde ihr schmerzlich klar, wonach sie sich im Leben am meisten sehnte. Nach einem Menschen, dem sie bedingungslos vertrauen konnte, nach einem Fels in der Brandung, mit dem sie den Stürmen des Lebens in guten wie in schlechten Zeiten trotzen konnte.

Irgendwann war ihr dieses ganze Therapiegeschwafel völlig sinnlos vorgekommen. Nein, Steffi Seiler war Vergangenheit! Patrizia Bertram musste neu beginnen, ihr war ziemlich schnell klar geworden, dass die Suche nach einem neuen Leben überall besser als in ihrer alten Heimat funktionieren würde. Die Entscheidung für Cannobio war naheliegend gewesen. Sie hatte manche Ferien ihrer Kindheit dort bei einer alleinstehenden Tante verbracht, sprach deshalb einigermaßen italienisch. Nach ihrem Tod, vor einigen Jahren, hatte ihre Familie die kleine Wohnung direkt am Lago Maggiore geerbt. So war sie kurz entschlossen vor einem guten Jahr dorthin gezogen.

Zwar war ihr Kontostand nach der Lösegeldzahlung nicht mehr wirklich üppig gewesen, aber ein kleines finanzielles Polster aus den beiden Modeljahren zuvor reichte fürs erste. Dennoch würde sie über kurz oder lang eine Arbeit finden müssen, die mit ihrer Angst vor fremden Menschen vereinbar war.

Wenn sie jetzt allerdings auf das letzte Jahr zurückblickte, musste sie sich ehrlicherweise eingestehen, dass die Suche nach einem neuen Leben bisher mehr als bescheiden verlaufen war. Was sie komplett unterschätzt hatte, waren die Panikattacken, die sie immer wieder wie aus heiterem Himmel überfielen. Sie kamen völlig unangekündigt, Kleinigkeiten konnten der Auslöser sein.

Ein Gesicht, das sie an den großen Mann erinnerte, die Enge eines dunklen Raumes oder der monotone Klang von fremden Schritten hinter ihrem Rücken. Dann tickte sie völlig aus, versuchte, sich in die nächstbeste Ecke zu verkriechen, und versenkte den Kopf in ihren Armen, bis sie sich wieder beruhigt hatte oder, noch schlimmer, von einem überraschten Passanten freundlich vom Boden hochgezogen wurde. Hinterher hasste sie sich selbst dafür, aber sie konnte einfach nichts dagegen machen. Es war wie ein Automatismus, der nicht mehr zu stoppen war, wenn er einmal angelaufen war. Statt sich ein neues Leben aufzubauen, hatte sie sich daher mehr und mehr aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Das ständige Alleinsein hatte das ausweglose Karussell ihrer Gedanken und Ängste auch nicht gerade zum Stehen gebracht.

Nur hin und wieder versuchte sie in verzweifelten Aktionen, Bewegung in ihr Dasein zu bringen. So auch gestern am zweiten Jahrestag ihrer Entführung. Sie hatte sich selbst irgendetwas beweisen wollen und war spontan zu dieser Bergtour auf den Monte Zeda aufgebrochen. Aber ein Schicksal mit einem Sinn für makabren Humor hatte ihr etwas gehustet und sie direkt auf den Rücken eines fremden Mannes verfrachtet.

„Wie geht’s da oben?“, riss dieser sie abrupt aus ihren Gedanken.

„Muss gehen! Wie geht’s da unten?“

„Muss gehen!“, gab Michael lachend zurück.

„War das Zufall oder hast du gerade aus Lucky Luke zitiert, Bohnenstange?“

„Ich habe früher alles gefressen, was aus Rene Goscinnys Feder kam“, antwortete Patrizia erstaunt darüber, dass ihr Lastesel den Dialog des berühmten Franzosen sofort richtig eingeordnet hatte.

„Er ist neben Andre Franquin und Bill Watterson einfach der größte Comic-Texter aller Zeiten!“

„Da guckst du!“, schüttelte Michael lachend seinen Kopf, „da haben wir ja außer dem Sport noch etwas gemeinsam. Ich stehe auf Calvin und Hobbes genauso wie auf Asterix und Obelix. Und André Franquins Gaston ist sowieso genial. Unterhalte mich doch ein bisschen mit ein paar Comic-Szenen, wenn du schon wie ein Hinkelstein auf meinem Rücken hockst. Ich muss mich schließlich aufs Laufen und Schnaufen konzentrieren.“

„Hey, erst vergleichst du mich mit Gollum, dann mit einem Hinkelstein. Du bist echt ein Charmebolzen allererster Güte!“

Aber trotzdem textete Patrizia Michael mit Sprüchen und Szenen aus ihren Lieblingscomics zu, und, oh Wunder: Sie konnte noch lachen. Sie lachte mit einem fremden Mann über Dinge, die sie auch früher zum Lachen gebracht hatten. Wieder einmal hatte der große, blonde Kerl binnen Sekunden das geschafft, was in der Therapie oft Tage gedauert hatte: Sie aus dem trüben Loch ihrer Erinnerungen zu reißen. Die Huckepack-Partie wurde geradezu kurzweilig, irgendwann sah sie überrascht, dass bereits erste Steinhäuser am Wegrand auftauchten.

Die Lichtungen an den Hängen des Zeda oberhalb von Falmenta erschienen wie ein Ausflug in die Vergangenheit. Nur zu Fuß oder mit Maultieren über alte, schmale Fußwege erreichbar, fanden sich dort teils intakte, teils halb verfallene alte Häuser, die vor langer Zeit aus den Felsbrocken der Umgebung erbaut worden waren. Die wenigen gefassten Wasserstellen und die schmalen Felder an den Berghängen gaben Zeugnis von der Mühsal, mit welcher sich hier früher die Menschen ihre karge Nische zum Leben gesucht hatten.

Michael reduzierte sein Tempo und ging tief durchatmend mit langsameren Schritten über die Ponte Barra, eine alte Steinbogenbrücke am Nordrand von Falmenta.

„Wir haben’s tatsächlich geschafft, Bohnenstange, da vorne steht mein Auto. Ging wirklich viel besser, als ich dachte. Wie viel wiegst du eigentlich?“

„Sicher weniger als ein Hinkelstein!“, antwortete Patrizia ausweichend.

„Ich weiß, ich weiß. Geht mich nichts an.“

Michael war mittlerweile neben einem älteren VW-Bus stehen geblieben.

„So, halte dich einfach am Wagen fest, gesunden Fuß auf den Boden, dann setze ich dich langsam ab. Voìla! Lebst du noch?“

Patrizia stand etwas wackelig auf ihrem gesunden Fuß, während Michael die Beifahrertür aufschloss.

„Wo steht denn dein Auto, Bohnenstange?“

Sie deutet auf ihren alten Focus Kombi, der etwas näher am Ortseingang parkte.

„Da steht er gut. Wenn du mir die Schlüssel überlässt, komme ich die nächsten Tage mal mit dem Rennrad hier vorbei und bringe ihn dir runter. So und jetzt genug gefaulenzt, Gollum! Hier haben wir wieder Telefonnetz und jetzt wollen wir mal sehen, dass du zum Doc kommst. Ich kenne einen erstklassigen Physiotherapeuten in Locarno, der kann dich sicher an einen guten Chirurgen in der Klinik überweisen, wenn’s dir recht ist. Wie bist du denn krankenversichert?“

Michael kam irgendwie immer direkt zur Sache.

„Chirurg? Klinik?“, unsicher starrte ihn Patrizia an.

„Da wirst du nicht drum rumkommen, Trish! Ich habe mir vor einem knappen Jahr selber das Sprunggelenk gebrochen und kenne mich deshalb ein bisschen aus. Dein äußerer Wadenbeinkopf ist verschoben, das heißt Operation, egal ob das Syndesmoseband noch ganz ist oder nicht. Wie bist du jetzt versichert? Die Schweizer sind gut, aber teuer! Sonst müsste ich mal Marcel anhauen, wie wir das drehen können.“

„Nein, nein! Ich bin privat krankenversichert!“, antwortete Patrizia. Das beste Relikt aus ihrer Zeit als Fotomodell, dachte sie wieder einmal.

„Warum machst du das alles, Eisenmann?“

Ihr Blick bohrte sich in seinen, offenbar verständnislos, dass er ihr weiter seine Hilfe anbot.

„Soll ich dich hier auf der Brücke hocken lassen? Irgendjemand muss sich ja um dich kümmern. Ich läute jetzt mal Marcel an, du solltest deine Angehörigen informieren, dass es dir gut geht. Funktioniert dein Handy?“

Während Michael seinen Freund am Telefon hatte und mit diesem ihre Einweisung in die Unfallchirurgie in Locarno vorbereitete, hielt Patrizia regungslos ihr Handy in der Hand.

„Alles klar!“, wandte sich Michael ihr grinsend zu, nachdem er sein Gespräch beendet hatte.

„Die Schwester in der Notaufnahme in Locarno hatte mal was mit Marcel, die warten praktisch schon auf uns. Schwein muss man haben. Und bei dir? Irgendjemanden erreicht?“

Patrizia schüttelte schweigend den Kopf, starrte auf ihr Handy und die Einsamkeit ihres sogenannten neuen Lebens senkte sich wie eine dunkle Wolke über sie.

„Ich habe niemanden hier in Cannobio!“, flüsterte sie leise.

„Freunde? Bekannte? Irgendwer, der dir daheim helfen kann, wenn du aus der Klinik raus bist? Vier bis fünf Wochen wirst du auf Krücken laufen. Und Autofahren und Einkaufen wird dann schwierig.“

Sie schüttelte erneut fast unmerklich ihren Kopf.

„Dann musst du jemanden von deiner Familie in Deutschland aktivieren!“

Irgendwie wollte Patrizia Michael nichts vormachen.

„Ich hab auch in Deutschland praktisch keine Angehörigen mehr.“

Sie erntete ein ungläubiges Stirnrunzeln.

„Keine Eltern, Geschwister, irgendwelche Verwandten?“

Patrizia schüttelte den Kopf. Ihr Vater ging gar nicht und Claudia wäre vermutlich zwar gekommen, aber die schrieb gerade ihre Bachelor-Arbeit und der konnte sie doch nicht fünf Wochen Zwangsaufenthalt in Cannobio aufbürden. Sie würde selber klarkommen müssen, so wie die letzten beiden Jahre auch.

Ihr Bergretter sah sie mit einem eigentümlichen Blick aus seinen irritierend blauen Augen an und Patrizia wartete bereits auf einen seiner flapsigen Sprüche über ihr erbärmliches, einsames Leben. Aber Michael Stadler hatte ein eigenartiges Gespür für ihre Stimmungslagen. Er zuckte nur seine Schultern, dann fasste er vorsichtig nach ihrer freien Hand.

„Kopf hoch, Trish! Gemeinsam kriegen wir das schon hin!“

Mit diesen Worten half er ihr fast zärtlich ins Auto.

Die tote Zeugin

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