Читать книгу Die tote Zeugin - Georg Kustermann - Страница 16
Cannobio, 1. September
Оглавление„Hallo Trish, wo bist du gerade?“
Vorsichtig ergriff Michael Patrizia an den Schultern und versuchte den Schleier, der sich über ihre schönen Augen gelegt hatte, zu durchdringen.
„Was ist passiert? Habe ich etwas Falsches getan? Ich wollte eigentlich nur wissen, was mit deinen Fingernägeln passiert ist.“
Sie starrte ihn weiterhin völlig ausdruckslos an, dann senkte sie den Kopf, wandte sich ab und humpelte wortlos zur Tür. Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, er konnte kein vernünftiges Wort mehr aus ihr herausbringen. An ein nettes Frühstück an der Seepromenade war schon gar nicht mehr zu denken, so holte Michael nur schnell zwei Panini in der Bar unter Ihrer Wohnung und sie machten sich auf den Weg nach Locarno. Letztlich aß er während der Fahrt beide Brötchen selber, weil Patrizia ihres konsequent ablehnte.
Er startete noch ein paar erfolglose Versuche, wieder ein vernünftiges Gespräch in Gang zu bringen, aber mehr als ja oder nein war nicht mehr aus ihr herauszukriegen. Sie starrte während der Fahrt nur ausdruckslos vor sich hin und Michael schien es, als sitze sie in einem schwarzen Loch, aus dem es nirgends ein Entrinnen gab.
Nach etwa dreißig Minuten Autofahrt erreichten sie die Unfallklinik in Locarno und er organisierte zunächst mal einen Rollstuhl, mit dem er Patrizia zur Notaufnahme schob. Es war glücklicherweise nicht allzu viel Betrieb und dank Marcels Ankündigung waren sie kaum zehn Minuten später in der Anmeldung. Während sie ihren Aufnahmebogen ausfüllte, bekam Michael mit, dass sie vierundzwanzig Jahre alt und in Prien am Chiemsee geboren war, also gar nicht weit von seinem eigenen Geburtsort Rosenheim entfernt.
Dank Patrizias privater Krankenversicherung und einer gezielten Charme-Offensive auf Marcels Ex-Freundin an der Rezeption gelang es Michael noch, ein Einzelzimmer zu organisieren, da ihm siedend heiß eingefallen war, dass sie nachts sicher wieder bei eingeschaltetem Licht schlafen wollte, was in einem Mehrbettzimmer vermutlich eher schwierig geworden wäre.
Es folgten die Voruntersuchungen und die Röntgenaufnahmen von ihrem linken Knöchel. Michael brachte derweil schon mal ihre Sachen auf das Zimmer im zweiten Stock. Es strahlte so viel Charme aus, wie ein nach Hygienerichtlinien aufgebautes Zimmer eben haben kann. Ein hoher, kahler Raum, mit einem Fenster zur kühlen Nordseite und weniger Atmosphäre als im Vakuum einer Glühbirne. Die Wände waren in einem abwaschbarem Hellbeige gestrichen und ein einsamer weißer Kunststoffschrank verlor sich an der Wand. Dem Bett gegenüber hingen ein Kreuz sowie ein verblichener Druck von van Gogh. Ein kleiner Fernseher an einem schwenkbaren Arm versuchte tapfer zu retten, was nicht zu retten war.
Während Michael alleine wartete, hatte er zum ersten Mal Zeit, sich die ganze Situation einmal in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen. Noch vor vierundzwanzig Stunden hatte er überhaupt keine Ahnung von Gollums Existenz gehabt und bereits jetzt begann sein Leben, sich in beängstigender Weise mit ihrem zu verstricken. Das schlechte Gewissen wegen seines ausgefallenen Trainingstages meldete sich plötzlich mit Vehemenz und je länger er in ihrem Zimmer sitzend über die Lage nachgrübelte, desto mehr kam er zu dem Schluss, dass er seiner Pflicht als hilfsbereiter Mitmensch wirklich vollauf nachgekommen war.
Er hatte mit ihr eine behelfsmäßige Nacht am Berg verbracht, sie fast tausend Höhenmeter vom Zeda heruntergeschleppt und sie jetzt sicher in einer guten Unfallklinik untergebracht. Das war eh schon mehr, als man im Grunde von ihm verlangen konnte. Er war Triathleth und kein gottverdammter Samariter und jetzt war es wirklich höchste Eisenbahn, sich wieder auf sein Training und Hawaii zu konzentrieren.
Da sie offensichtlich keine anderen Bekannten in Cannobio hatte, würde er sie natürlich bei ihrer Entlassung wieder hier abholen und nach Hause fahren. Irgendwann würde er dann noch ihren Wagen von Falmenta herunterbringen, aber damit sollte es dann auch gut sein. Er war sich sicher, dass sie unmittelbar nach der OP mit Krücken und Gehgips auf die Beine gestellt werden würde. Sie wäre also zumindest notdürftig mobil und bezüglich ihrer Versorgung war ihm ein guter Gedanke gekommen.
Maria Casorotto, Mitte Fünfzig und eine echte italienische Mama, war die Lösung. Sie kam einmal die die Woche zu ihm in Marcels Wohnung zum Saubermachen und bemutterte ihn dabei mehr, als es früher seine eigenen Eltern getan hatten. Sie wohnte in der Via Giulio Branca, also gar nicht weit von Patrizia entfernt und hatte seines Wissens mehrere Zugehplätze in der Stadt. Gegen Bezahlung würde sie sich sicherlich die nächsten Wochen ein wenig um Patrizia kümmern.
Ja, je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm diese Idee. Das war sicherlich für alle Beteiligten die ideale Lösung, das musste sie auch verstehen. Er konnte es sich in seiner heißen Trainingsphase einfach nicht leisten, weiter für sie den Babysitter zu spielen und ständig einen Klotz am Bein zu haben.
Irgendwann wurde Patrizia von einem Pfleger im Rollstuhl ins Zimmer gebracht. Sie zuckte zurück, als dieser sie ins Bett hieven wollte, Michael erinnerte sich an dieselbe abwehrende Panik, als er sie ins Bivacco tragen wollte. Ganz automatisch sprang er in die Bresche und eigenartigerweise ließ sie es bei ihm widerstandslos geschehen, dass er ihr ins Bett half. Der Pfleger brachte an selbigem ein Namensschild an und wandte sich dann an ihn.
„So, jetzt ist alles vorbereitet. Wir haben alle OP Unterlagen beisammen. Dr. Luca Gorelli, der Chirurg, der operieren wird, hat morgen die Vormittagsschicht und wenn keine akuten Notfälle einlaufen, wird Frau Bertram gleich als erste Patientin um acht Uhr auf den OP Tisch kommen.“
Patrizia lag schweigend im Bett und zeigte keinerlei Gefühlsregungen.
„Kopf hoch!“, versuchte der Pfleger sie aufzumuntern.
„Dr. Gorelli ist wirklich einer unserer besten Chirurgen und wie sie ja vom Radiologen gehört haben, ist es ein glatter, unkomplizierter Bruch, der völlig problemlos versorgt werden kann.“
Dann war Michael mit Patrizia alleine im Zimmer und Schweigen umhüllte die beiden wie ein zäher Novembernebel. Er hatte sich ein paar vernünftige Sätze vorbereitet, mit welchen er sich von ihr verabschieden wollte. Bei seinen verflossenen Freundinnen war es ihm auch nie schwergefallen, Kante zu zeigen, wenn es um den Stellenwert seines Trainings ging. Aber als er die ausgezehrte Frau jetzt in dem großen Klinikbett vor sich betrachtete, wirkte sie so alleine, dass er plötzlich nicht mehr recht wusste, wie er anfangen sollte. Es war nicht nur die Abwesenheit von Freunden oder Familie, nein er spürte bei ihr eine Einsamkeit, die er noch nie bei einem Menschen erlebt hatte. Plötzlich tat sie ihm unendlich leid.
Er räusperte sich gerade verlegen, als sie abrupt den Kopf zu ihm wandte und ihn mit ihren unergründlichen Augen wortlos anschaute. Der Augenblick dehnte sich, wie beim Sonnenaufgang am Monte Zeda verlor sich Michael rettungslos in der eigenartig vertrauten türkisblauen Tiefe. Er war unfähig zu reden oder den Blick von ihr zu wenden, als er plötzlich leise, wie von weit entfernt, ihre Stimme vernahm.
„Vielen Dank für alles, Eisenmann! Du hast das Herz am rechten Fleck, nicht jeder hätte das getan, was du für mich getan hast. Du hast mir gestern und heute mehr geholfen, als du ahnen kannst. Aber ich glaube, jetzt ist es an der Zeit für dich, wieder deinen Traum zu leben. Gehe zurück an dein Training und zeige denen in Hawaii, was Sache ist! Ich bin hier in guten Händen und komme jetzt wieder alleine klar. Ich werde mich von einem Taxi heimfahren lassen und ich werde irgendeine Haushaltshilfe finden, die mir in den nächsten Wochen helfen kann. Ich wünsche dir viel Glück in Hawaii. Ich werde am elften Oktober an dich denken. Aber jetzt erspare bitte uns beiden dein Mitleid und geh!“
„Hör zu Gollum, ich …“
„Bitte Michael Stadler, geh! Bitte geh jetzt gleich!“
Nachdem Michael, nicht ohne sich nochmals umzudrehen, die Tür hinter sich geschlossen hatte, lag Patrizia regungslos in ihrem Bett. Es war ihr unendlich schwergefallen, ihn wegzuschicken, und jetzt fiel die Einsamkeit ihres nachtschwarzen Lebenskarussells wie eine dunkle Decke über sie. Es war beileibe nicht das erste Mal, dass so etwas passierte und es würde auch nicht das letzte Mal sein.
Bereits als Michael sie nach ihren Fingernägeln gefragt hatte, hatte sie diese schwarze Welle der Erinnerung wieder einmal völlig unangekündigt überrollt. Es war einfach ein riesiges Loch! Unermesslich, schwarz, ohne Luft und es saugte sie ein. In der Therapie hatte sie Tabletten dagegen bekommen. Tabletten gegen Angst, Tabletten zum Schlafen. Aber irgendwann hatte sie die Tabletten abgesetzt, weil sie auch den letzten Rest des Menschen, der sie einmal gewesen war, ausgelöscht hätten. Wozu hätten sie auch nutzen sollen?
Das schwarze Loch brachte sie ja nicht um, auch wenn sie darin gefangen war.
Sie konnte sich bewegen, reden, atmen.
Aber leben? Leben konnte sie darin nicht!
Und sie wollte in gar keinem Fall noch jemand anderen in dieses Loch mit hineinziehen. Michael Stadler war ihr in den letzten vierundzwanzig Stunden sowohl körperlich als auch auf einer merkwürdigen Gefühlsebene nähergekommen als irgendein anderer Mensch in den letzten beiden Jahren. Aber als sie das aufkeimende Mitleid in seinen Augen gesehen hatte, wusste sie, dass sie genau das nicht ertragen konnte.
Sie hatte in seinen Augen genau gesehen, wie es in ihm gearbeitet hatte. Wie er überlegt hatte, mit welchen Worten er ihr schonend beibringen könnte, dass er jetzt wieder gehen wollte. Und wie ihn nur sein Mitleid daran gehindert hatte, es auszusprechen. Bereits in dem Moment, als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, wollte irgendetwas in ihr „Bleib, Bitte bleib!“, schreien, aber sie hatte es nicht über ihre Lippen gebracht. Denn ihre Angst war stärker gewesen. Ihre Angst vor Mitleid und ihre Angst vor der Erinnerung. Und sie wollte weder das eine noch das andere. Seit den Geschehnissen jener Tage ertrug sie weder Mitleid, noch die Erinnerung an das, was sie eigentlich auf ewig vergessen wollte, was sie aber auch jetzt wieder mit unbarmherziger Intensität überfiel.