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Locarno, 4. September
ОглавлениеTief über seinen Triathlon-Lenker gebeugt zog Michael seine Rennmaschine mit großer Übersetzung vom Passo del Lucomagno Richtung Biasca hinab. Er hatte heute keine besonders guten Beine und sich vor allem den Gegenanstieg von Disentis herauf ziemlich schinden müssen. Jetzt war er froh, dass es bis Locarno überwiegend bergab ging. Vielleicht lag es an der ziemlich intensiven Laufeinheit vom Vortag, oder aber auch an der langen, bergigen Etappe von heute. Vielleicht hing er auch mit seinen Gedanken einfach noch zu viel dem gestrigen Abend mit Patrizia nach.
Nach dem wunderschönen ersten Kochen vor zwei Tagen hatte er sich richtig auf das Wiedersehen mit dem geheimnisvollen Mädchen gefreut. Da er für die Radetappe ohnehin Kohlehydrate bunkern musste, und diesmal nicht allzu großen Aufwand am Herd betreiben wollte, hatte er sich für eine einfache Pasta entschieden. Spaghetti Burro e Salvia mit frischem Parmesan, dazu ein bisschen Salat, fertig. Er war richtig neugierig gewesen, wie das Gesprächsthema dieses Abends lauten würde.
Doch dann hatte er das Ganze irgendwie vermasselt. Er war schon unterwegs zu ihrer Wohnung gewesen, als er einer spontanen Eingebung folgend noch kurz bei Maria Casorotto vorbeigeschaut hatte. In ihrer typischen Art begrüßte sie ihren „Caro Ragazzo“ überschwänglich, und nachdem er ihr von Patrizia erzählt hatte, war sie sofort Feuer und Flamme, dem armen Mädchen mit dem gebrochenen Fuß als Haushälterin ein wenig unter die Arme zu greifen. Sie schlug vor, ihn sofort zu begleiten, und so standen sie keine zehn Minuten später gemeinsam vor Patrizias Wohnungstür.
Gollum lächelte als sie Michael erblickte, aber dieses Lächeln erstarb schlagartig, als sich Frau Casorotto etwas übereifrig als ihre neue Haushaltshilfe vorstellte. Höflich bat sie die kleine, etwas korpulente Italienerin kurz zu warten, dann riss sie Michael mit zornblitzenden Augen und einer Kraft, die er ihren dürren Armen gar nicht zugetraut hätte in ihr Schlafzimmer, weil das einfach der nächste Raum war. Michael schwante schon, was kommen würde, trotzdem startete er noch einen Versuch, die Situation mit Humor zu retten.
„He, nicht so stürmisch, Bohnenstange. Gehst du immer so forsch ran, wenn du Männer an dein Bett zerrst?“
„Spar dir bloß deine blöden Sprüche, Mister Triathlon. Ich dachte, wir hätten gestern alles geklärt, aber du hast scheinbar gar nichts begriffen. Zum allerletzten Mal: Ich will nicht, dass du einfach über meinen Kopf hinweg Dinge entscheidest, die dich eigentlich gar nichts angehen.“
„Aber du hast doch im Krankenhaus selbst gesagt, dass du dir eine Haushaltshilfe suchen willst, und weil ich weiß, dass Maria total fürsorglich und zuverlässig ist, dachte ich …“
„Darum geht es doch überhaupt nicht du ignoranter Hohlkopf! Du bist nicht mein Kindermädchen! Geht das endlich in deinen vernagelten Schädel rein? Egal ob du einen Termin bei deinem Physiotherapeuten für mich ausmachst, für mich den Küchenchef spielst oder hier eine Haushälterin anschleppst: DU-SOLLST-MICH-VORHER-FRAGEN! Auch wenn die Dinge, die du für mich machst, hundert Mal vernünftig sind. Nur weil ich dürr bin, bin ich noch lange kein kleines Kind. Ich bin alt genug, mich um mich selbst zu kümmern!“
Langsam begann auch Michael die Geduld zu verlieren.
„Genau den Eindruck hatte ich auch, als ich dich am Zeda im Regen gefunden habe. Du hattest die Lage ja ziemlich souverän im Griff!“
Patrizia stieß wutschnaubend die Luft aus.
„Das ist doch das Allerletzte! Soll ich jetzt bis an mein Lebensende den Boden vor dir küssen, weil du mich von diesem blöden Berg runtergetragen hast? Ich habe mich schon -zig Mal dafür bei dir bedankt, und das weißt du genau. Aber deshalb brauche ich noch lange keinen Aufpasser, der mich rund um die Uhr betüddelt und mir alle Entscheidungen abnimmt. Ich habe die Nase gestrichen voll davon, dass jeder weiß, was gut für mich ist, nur scheinbar ich selber nicht!“
Plötzlich merkte Michael, dass sie innerlich vibrierte. Hier ging es um viel mehr als eine Haushaltshilfe oder einen Termin bei Marcel. Weil er manchmal so wunderbar normal mit ihr reden konnte, vergaß er bisweilen, dass sie mit Sicherheit ein paar Probleme mit sich herumschleppte, die man nicht so ohne weiteres unter den Tisch kehren konnte.
„Also, was schlägst du vor? Soll ich Maria wieder wegschicken oder willst du sie dir zumindest einmal anschauen, wenn sie schon hier ist. Sie ist echt eine gute Seele, absolut vertrauenswürdig und ich kann sie dir nur empfehlen!“
„Nachdem sie unseren Zoff hier sicher mitbekommen hat, ist sie wahrscheinlich ohnehin nicht mehr scharf darauf, in einem Psychopathenhaushalt zu arbeiten.“, meinte Patrizia nur achselzuckend.
Aber Maria Casorotto war nicht nur eine gute Seele, sie war auch eine waschechte Italienerin. Worum es bei dem in Deutsch ausgetragenen Streit gegangen war, hatte sie ohnehin nicht verstanden, und dass die Lautstärke mal ein bisschen hochging, war in Bella Italia nicht wirklich außergewöhnlich. Sie schaute sich die Wohnung nur kurz an und hatte sofort einen Plan geschmiedet.
„Also die kleinen Räume sind wirklich nicht viel Arbeit. Ich wohne ja ohnehin gleich um die Ecke und kann also jeden Tag kurz vorbeischauen wegen Einkaufen, Post raufholen, Müll runterbringen und so weiter. Da erledige ich dann einfach, was sonst noch so anfällt.
Sie müssen auf jeden Fall ihren Fuß schonen, sie armes Kind. Und essen müssen sie, Mamma Mia, sie sind ja nur Haut und Knochen. Das ist aber auch kein Problem, ich kann jeden Tag etwas vorbeibringen.“
Michael hielt die Luft an und starrte in Erwartung einer neuen Explosion angespannt auf Patrizia, aber die ließ nur resigniert den Kopf auf ihre Brust fallen und zeigte mit ihrem Finger auf ihn.
„Ich geb’s auf. Kochen sie, putzen sie, aber den Müll soll der blonde Lulatsch da in der Ecke runterbringen!“
Nachdem sich Maria verabschiedet hatte, stand Michael noch ein wenig unschlüssig im Flur herum. Die Stimmung war völlig im Eimer gewesen, und Gollum hatte minutenlang wie ein Psychopath, der sie wohl auch war, wortlos die Wand angestarrt. Irgendwann bat sie lediglich darum, jetzt alleine gelassen zu werden, und so hatte sich Michael samt seiner Spaghetti, Salbei und Rotwein vom Acker gemacht. In ziemlich miesepetriger Laune hatte er alleine bei sich zu Hause die Pasta verdrückt. Er fragte sich, ob er die Frauen im Allgemeinen und Gollum im Speziellen je verstehen würde, und ob das schon das Ende seiner geplanten Koch-Events war.
Allerdings hatte ihm die Erinnerung an ihren Wutausbruch irgendwann ein fast bewunderndes Grinsen entlockt. Gollum konnte ein ganz schöner Temperamentsbolzen sein, und wenn er sich ehrlich war, wurmte es ihn ein wenig, so von ihr abserviert worden zu sein. Er kannte Dutzende von Frauen, die nur darauf gewartet hätten, von ihm bekocht zu werden. Verdammt noch mal, er hatte es überhaupt nicht nötig, sich von diesem dürren Klappergestell zum Müllträger degradieren zu lassen!
Aber erstens hatte er sich vorgenommen, mehr über dieses Mädchen herauszufinden, und zweitens, ja was war eigentlich zweitens …? Zweitens war, dass ihn Patrizia Bertram irgendwie nicht mehr losließ, ohne dass er hätte sagen können warum. Und noch während er vor sich hin gegrummelt hatte, hatte er begonnen, im Kopf die Einkaufsliste für Seelachs mit Kapern und Tomaten im Bratschlauch zusammenzustellen.
Jetzt rollte er die letzten Kilometer nach Locarno und hatte wieder einen einigermaßen klaren Kopf. Es ging einfach nichts über ein Paar Stunden Kurbeln, um die Birne zu sortieren. Auch wenn sie nicht gleich so austicken hätte müssen, hatte Trish ja irgendwo recht gehabt. Er musste wirklich aufhören, ständig für sie Sachen zu planen, ohne das Ganze vorher mit ihr abzusprechen. Und außerdem, was hatte er eigentlich erwartet? Dass Gollum schon nach dem ersten netten Abendessen alle Neurosen abschütteln und zum ausgeglichenen Mädchen von nebenan mutieren würde? Sie faszinierte ihn ja gerade wegen ihrer Unergründlichkeit und wegen dieser Entschlossenheit, ihre Probleme selbst zu meistern. Was sie brauchte, war keine beleidigte Leberwurst, sondern einen Freund, der ihr eine klare Ansage machte, wenn sie auf dem Holzweg war, sie aber trotzdem in all ihrer Widersprüchlichkeit so akzeptierte, wie sie eben war.
In Locarno angekommen packte er das Rad in seinen VW-Bus, den er vor Marcels Praxis geparkt hatte. Kurze Zeit später lag er auf der Liege im Massageraum und ließ sich von Marcel die Müdigkeit von einhundertsechzig harten Radkilometern aus den Oberschenkeln kneten.
„Was weißt du eigentlich über Anorexie, also ich meine hauptsächlich über deren Ursachen?“, fragte er vorsichtig, da er Gollum einfach nicht aus seinen Gedanken bekam.
„Fragst du wegen deiner Freundin?“, hakte Marcel nach.
„Ist nicht gerade mein Spezialgebiet, aber sie scheint mir schon ein ziemlich ausgeprägter Fall zu sein. Mit ihren kurz geschorenen Haaren sieht sie schon fast gespenstisch aus. Weißt du, ob es in ihrem Leben irgendein traumatisches Ereignis gegeben hat?“
„Da findest du eher die private Handynummer des US-Präsidenten raus, als irgendetwas über Patrizia Bertram!“, seufzte Michael.
„Darum frage ich ja dich!“
„Tja, soviel ich weiß, liegen die Ursachen von Anorexie bei Mädchen nicht selten im familiären Umfeld. Überbehütung, kombiniert mit übersteigerter Erwartungshaltung der Eltern, insbesondere der Mütter, resultieren häufig in diesem Selbstwertkonflikt, der irgendwo der Schlüssel zu dieser selbstzerstörerischen Nahrungsverweigerung ist. Weißt du irgendetwas über die Beziehung zu ihren Eltern?“
„Leider gar nichts. Wie gesagt, da lässt sie sich kein bisschen in die Karten schauen. Ich weiß aber, dass sie im Skigymnasium bei den Biathletinnen war und bis zu ihrem Studium praktisch acht Jahre lang lupenreinen Leistungssport betrieben hat. Hört sich irgendwie nicht nach mangelndem Selbstwertgefühl an!“
„Na ja, du weißt nicht, wie viel Druck ihre Alten auf sie ausgeübt haben. Es gibt ja diese krankhaft ehrgeizigen Sporteltern. Sie kommt mit dem Leistungsdruck nicht klar, und irgendwann endet das Ganze in der Totalverweigerung, einschließlich Essen. Alles möglich! Es gibt ja auch diese klassische Sportleranorexie, bei der gerade Leistungssportler durch extreme Gewichtsreduzierung ihre Leistungen steigern wollen, und irgendwann läuft das Ganze dann krankhaft aus dem Ruder. Denk nur mal an die Skispringer oder die Wettkampfgymnastinnen. Sogar die deutsche Ruderlegende Bahne Rabe hat’s erwischt. Kaum vorstellbar. Ein zwei Meter großes Kraftpaket von hundert Kilo purer Muskelmasse endet als menschliches Skelett und stirbt schließlich völlig geschwächt an einer banalen Lungenentzündung. Echt tragisch. Soll’s übrigens auch bei Triathleten geben, aber bei dir altem Fresssack habe ich da eher weniger Sorgen!“
„Ich sportle nur, damit ich mehr essen kann!“, konterte Michael und benutzte ganz ohne es zu wissen ein Steffi Seiler-Zitat.
„Aber irgendwie passt das nicht für Gollum. Wenn sie aus ihrer Sportzeit erzählt, hört sich das immer sehr glücklich und aufgeräumt an. Gerade als ob sie sich danach zurücksehnt.“
„Du nennst sie Gollum?“
Marcel schüttelte ungläubig den Kopf.
„Du bist echt ein Charmemonster allererster Güte. Manchmal verstehe ich nicht, warum dir die Frauen so scharenweise hinterherlaufen.“
„Liegt wohl an meinem tadellosen Charakter.“
„Vor allem weil dein Charakter groß und braungebrannt, muskulös und mit einem Waschbrettbauch gesegnet ist. Weiber sind doch alle gleich. Zitiere Rilke und sie übersehen dich, spann deinen Bizeps an und sie beginnen zu sabbern.“
Michael grinste.
„Nur kein Neid! Ich kann übrigens beides: Rilke zitieren und Bizeps anspannen. Aber zurück zu Trish. Ich glaube nicht, dass sie in ihrer Sportzeit sehr gelitten hat.“
„Oft sind die Betroffenen auch Opfer sexueller Gewalt, nicht selten in der eigenen Familie. Aber wenn sie im Internat war, kommt wohl sexueller Missbrauch durch den Vater eher weniger in Frage.“
„Sexueller Missbrauch?“, fragte Michael alarmiert nach.
„Klar! Kann auch sein, dass sie irgendwann vergewaltigt worden ist. Die Nahrungsverweigerung ist dann irgendwie eine Art Selbstbestrafung des eigenen Körpers oder der Versuch, sich für Männer unattraktiv zu machen. Ach das ist alles eine ganz verdrehte Logik. Wenn du nicht drin steckst, kapierst du es nie. Hat sie eigentlich jemals eine Therapie gemacht?“
„Ja, aber irgendwann abgebrochen!“
Michael war auffallend still geworden. Alleine bei dem Gedanken, dass Trish möglicherweise vergewaltigt worden war, wurde ihm speiübel. Irgendwie hatte er nie so weit gedacht. Aber plötzlich passten beängstigend viele Teile des Puzzles zusammen. Er erinnerte sich an eine Bekannte seiner Schwester, die Opfer ihres alkoholsüchtigen, prügelnden Ehemannes geworden war. Auch sie zuckte jedes Mal zurück, wenn ihr ein Mann zu nahe kam oder sie gar berührte. Er dachte an Gollums Panik vor der Dunkelheit und an ihre entsetzten Augen, als er sich oben in der Biwakschachtel das Trikot ausgezogen hatte. Verdammt noch mal, sie brauchte wirklich einen Freund, egal ob sie einen wollte oder nicht!
Patrizia lag in ihrem Bett auf dem Rücken und starrte an die Decke. Die schwache LED-Lampe, die sie immer nachts brennen ließ, tauchte den Raum in ein fahles, künstliches Licht. Ihr Blick wanderte über den schmucklosen hellgrauen Kleiderschrank und die gleichfarbige kleine Kommode an der Wand rechts davon. Sie hatte im Schlafzimmer ihrer Tante nicht viel verändert, weil sie ihr Budget nicht überstrapazieren wollte und sie ihr Geld und ihre Energie lieber auf das Wohnzimmer konzentriert hatte.
Sie hatte sich lediglich eine vernünftige Matratze gegönnt und in den ersten Monaten ein bescheuertes Wechselspiel des Wandbehangs neben der Kommode gespielt. Ursprünglich war dort ein großer Ankleidespiegel gewesen, den sie irgendwann abgenommen und zwischen Schrank und Wand geschoben hatte. Sie hatte einfach den Anblick der freudlosen Gestalt mit dem hohlwangigen Totenkopfschädel nicht mehr ausgehalten, die sich jedes Mal zeigte, wenn sie vor den Spiegel trat. Stattdessen hatte sie ein Bild aus alten Berchtesgadener Tagen aufgehängt, von welchem die Junioren-Biathlonstaffel mit Steffi Seiler, Claudia Keller und zwei weiteren Sportfreundinnen dem Betrachter entgegenjubelte.
Wenige Tage später war ihr der Anblick der vier hübschen, lebensfrohen Mädchen, zu denen auch sie einmal gehört hatte, unerträglich geworden, und sie hatte das Bild wieder mit dem Spiegel vertauscht, nur um diesen wieder wenige Tage später gegen einen nichtssagenden Druck von van Gogh auszutauschen. Die Nächte darauf hatte sie selbst als Weichei und Feigling beschimpft, weil sie sich weder mit ihrer Vergangenheit noch mit ihrer Gegenwart abfinden konnte, und seitdem hingen Spiegel und Foto nebeneinander, um sie jeden Tag daran zu erinnern, dass sie ein Ziel vor Augen hatte. Den Menschen wiederzufinden, der sie auf dem Foto einmal gewesen war und von dem sie sich eigentlich schon während ihrer Zeit in der hektischen Scheinwelt der Modelszene mehr und mehr entfernt hatte.
Damit kehrten ihre Gedanken irgendwann zwangsläufig zu dem Problem zurück, das sie heute zusätzlich um den Schlaf brachte. Sie war sich selber seit langem nicht mehr so normal vorgekommen wie in den wenigen Stunden, die sie während der letzten Tage mit Michael Stadler verbracht hatte. Es war schon eigenartig! Noch vor einer Woche hatte sie nicht geglaubt, dass sie sich jemals wieder mit einem fremden Mann körperlich auseinandersetzen könnte. Aber ihn hatte sie am Arm gepackt und in ihr Zimmer gezerrt, wo sie ihn beschimpft hatte. Eine Welle von schlechtem Gewissen und Scham durchflutete sie.
Natürlich war er unmöglich, wenn er glaubte, ihr Leben für sie planen zu wollen. Aber wenn sie ehrlich war, hatte er schlicht und ergreifend ihren Arsch gerettet. Sie vom Berg getragen, ihr einen Top-Chirurgen beschafft, ihr Auto aus Falmenta geholt, für sie Chauffeur gespielt, sie zum Physiotherapeuten gebracht. Er hatte eine Haushaltshilfe für sie organisiert und vorgestern phantastisch für sie gekocht und das alles, ohne irgendeine Gegenleistung dafür zu erwarten. Davon abgesehen hatte sie wahrscheinlich die letzten drei Monate nicht so viel gelacht wie mit Michael die letzten drei Tage.
Und was hatte sie zum Dank dafür getan? Ihn zum zweiten Mal binnen weniger Tage einfach vor die Tür gesetzt. Sie sah ihn noch vor sich, wie er mitsamt seiner Einkaufstüte und einem bedauernden Achselzucken aus ihrer Wohnung verschwunden war.
Und das alles nur weil sie sich von ihm fremdbestimmt und übergangen gefühlt hatte. Mein Gott! Was war sie nur für eine hysterische, blöde Gans geworden. Normalerweise hasste sie so affektierte Frauen, die wegen jedem Mist eine Szene machten und über Meinungsverschiedenheiten nicht normal reden konnten. Sie hätte es Michael wirklich nicht verübeln können, wenn er jetzt endgültig die Schnauze voll von ihr hatte und sich wieder ganz auf sein Training für Hawaii konzentrierte.
Das verbitterte Lachen, das plötzlich durch ihr Schlafzimmer hallte, klang fremd und wie von einer anderen Person. Nein, sie hatte wahrhaftig überhaupt keine Routine mehr im Umgang mit anderen Menschen. Viel zu lange lebte sie schon ihr einsiedlerhaftes Leben im Kokon ihrer Ängste und Komplexe. Und mit einem Schlag sah sie glasklar, dass sie sich um jeden Preis wieder auf andere Menschen einlassen musste, wenn sie jemals in ein halbwegs normales Leben zurückfinden wollte. Sie musste sich bei dem Menschen entschuldigen, der in wenigen Tagen mehr Bewegung in ihr Leben gebracht hatte als ein halbes Jahr Therapie, und der ihr schon jetzt mehr bedeutete, als sie sich selbst gegenüber zugeben wollte. Sie würde ihn gleich morgen früh anrufen und …
… sie hatte nicht einmal seine Handynummer. Der Gedanke durchfuhr sie wie ein lähmender Blitzschlag. Sie konnte höchstens per Internet die Praxis von Marcel suchen und diesen nach Michaels Nummer fragen. Oder noch besser darauf hoffen, dass Frau Casorotto in den nächsten Tagen hier aufkreuzte und ihr seine Nummer gab.
Bis dahin konnte sie nur warten.