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Was die Zeit überdauert – Überlieferung
ОглавлениеIn Stein gemeißelt
Die Existenz der etwa 50 altgriechischen Musikfragmente verdanken wir hauptsächlich der Robustheit ihrer Träger, Stein zum Beispiel, oder der Trockenheit der Sahara, wo Papyrus lange überdauert. Dabei ist die antike Musik möglicherweise gut weggekommen. Wird hingegen in 2000 Jahren noch etwas von den in unseren Tagen üblichen Trägern erhalten sein, von zerbröselndem Papier zum Beispiel oder von den immer schneller überholten elektronischen Datenträgern?
»Überlieferung« meint die verschiedenen Arten und Weisen, mit denen die Kenntnis von Musik von einer Person zu einer anderen gelangt. Als universal kann die mündliche Überlieferung gelten, die es immer gab und geben wird, solange eine Mutter ihrem Kind ein Lied summt. Dazugekommen sind die schriftliche Überlieferung und seit dem frühen 20. Jahrhundert jene mittels technischer Klangspeicherung. Die mündliche Überlieferung antiker Musik ist erloschen, die technische gab es noch nicht und die schriftliche beschränkt sich heute auf etwa 50 erhaltene Fragmente, die die damaligen Tonzeichen aufweisen. In einer Art »Nebenüberlieferung« zu den wenigen erhaltenen Musikfragmenten geben antike Schriftsteller Aufschluss über die Wirkung der damaligen Musik auf die Menschen.
Gut ein Drittel der antiken Musikfragmente sind Papyrusfetzen von vertonten Dramen. In der durch die Eroberungen Alexanders des Großen (356–323 v. Chr.) entstandenen griechisch geprägten Kulturlandschaft des Hellenismus, die sich von Alexandrien in Ägypten bis weit nach Osten erstreckte, fanden überall wiederkehrende Feste statt, darunter auch »musische«. Als Festplätze bauten sich zahlreiche Städte Theater. Heute nur noch leere Hülsen, waren sie damals mit der vitalen Kraft des Dramas erfüllt, vor allem der Tragödien des Euripides, die von großen Themen menschlichen Daseins handeln: von der Verantwortung des Einzelnen in der Gesellschaft, von Schuld, Sühne und Erlösung. Aufgeführt wurden sie durch »technitai«, das waren »vereinsmäßig organisierte, von Fest zu Fest reisende und über bestimmte Dramenrollen verfügende Künstler«. Das abgebildete Fragment der Tragödie Orestes von Euripides stammt von einer solchen Papyrusrolle. Sie wurde um 200 v. Chr. angefertigt, gut 200 Jahre nach dem Tod des Euripides, als seine Werke in der ganzen hellenistischen Welt aufgeführt wurden. Der Glanz währte also lange, verging aber, und die Orestes-Rolle wurde eines Tages in Hermopolis Magna (Ägypten) »recycelt« – als Mumien-Kartonage! Durch solches »Recycling« wurde schon mancher Text für die Nachwelt gerettet.
Fragment aus Orestes von Euripides, Papyrus, um 200 v. Chr. © Österreichische Nationalbibliothek/ http://digital.onb.ac.at, Euripides, Orestes 338-44 (Pöhlmann/West), Papyrus G 02315
Die jahrhundertelange Pflege und Überlieferung antiker Dramen hing zumindest teilweise zusammen mit der Macht der damaligen Musik über die menschliche Seele. Es ist schwierig, sich anhand von Musikfragmenten eine Vorstellung von dieser Macht zu verschaffen. Antike Schriftsteller können uns aber auf die Sprünge helfen. Laut der Poetik des Aristoteles zum Beispiel bewirkt die Tragödie die »Reinigung« (Katharsis) der Zuschauer von den »Leidenschaften Mitleid und Schrecken«, die sie erregt; dabei ist die Melodie »das größte der [tragischen] ›Gewürze‹«. Und Platon, der Lehrer des Aristoteles, verbannte bestimmte »Tonarten« wegen ihrer manipulativen Kraft aus seinem Idealstaat und warnte davor, dass Änderungen der Musik Umwälzungen im Staat auslösen könnten – auch die gesellschaftliche Revolution der 1960er-Jahre ging nicht ohne Neuerungen in der Musik einher.
Alle antiken Feste, ob musisch oder athletisch, waren zur Ehre einer Gottheit gefeierte religiöse Angelegenheiten. Die jeweilige Gottheit wurde durch Hymnen verehrt. Zwei davon sind mit Tonzeichen erhalten. Dabei handelt es sich um »paianes« (altgriechisch: »feierliche Gesänge«) an Apollon, aufgeführt anlässlich der Pythischen Spiele in Delphi im Jahr 127 v. Chr. und eingemeißelt am dortigen athenischen Schatzhaus. Zugleich sind es die umfangreichsten Zeugnisse antiker Musik – übertragen in heutige Notation etwa 100 bzw. 150 Takte lang. Als vielleicht einziges antikes Musikzeugnis vollständig überliefert ist die vertonte Grabinschrift des Seikilos in Tralleis (Kleinasien, heutige Türkei) aus dem 1. Jahrhundert nach Christus. Die Töne und Rhythmen des Liedes lassen sich problemlos entziffern:
Im Gegensatz zu den meisten Fragmenten, die eher die Fremdheit damaliger Musik bewusst machen, schlägt das Seikilos-Lied mit seiner volkstümlichen Einfachheit eine Brücke zu unserem heutigen Empfinden. Und seine Botschaft – »Carpe diem!« (»Genieße den Tag!«), ausgesprochen anlässlich eines Todesfalls – ist zeitlos: »Solange du lebst, leuchte. / Trauere über nichts. / Nur kurz dauert das Leben. / Das Ende fordert die Zeit ein.«ΑΩ RHa