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Die Anfänge des Schreibens von Musik – Neumennotation

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Bei dem Codex aus Kloster Einsiedeln (Schweiz) handelt es sich um eine der ältesten Gesangshandschriften. Über den Textzeilen wurde ausreichend Platz für die Aufzeichnung linienloser Neumen gelassen. Zugleich gibt der Abstand zwischen den einzelnen Silben in den Textzeilen Raum für den Eintrag längerer Tonfolgen (Melismen). © Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Codex 121(1151), S. 5 (www.e-codices.ch)

Die Bezeichnung Neume für ein Notenzeichen leitet sich von griechisch »neuma« (»Wink«) her und ist erstmals im 10. Jahrhundert belegt. Der Name verweist darauf, dass Neumen dem Benutzer einer Musikaufzeichnung einen »Hinweis« auf den Verlauf geben, den eine Melodie nimmt.

Im ausgehenden 9. Jahrhundert machte sich der Mönch Hucbald von Saint-Amand ausführlich Gedanken über die Möglichkeiten der schriftlichen Darstellung von Musik. Er beschrieb dazu sowohl Neumen als auch Buchstaben- und Liniennotationen. Durch Buchstaben und geschlüsselte Linien konnten Melodien mit ihren genauen intervallischen Abständen Ton für Ton wiedergegeben werden. Die Neumennotation dagegen vermittelte mithilfe grafischer Zeichen (punkt- oder strichförmige Zeichen sowie deren Kombinationen) eine bildliche Vorstellung vom Verlauf einer Melodie, ohne die zwischen den einzelnen Tonelementen liegenden Abstände anzugeben.

Hucbald nannte die Neumen »übliche Zeichen« und die Buchstabenschrift »kunstgemäße Zeichen« (»artificiales notae«) – offenbar weil Letztere aus der »ars musica«, also aus der theoretischen Beschäftigung mit Musik heraus, entstanden sind. Die Neumen hingegen waren »üblich«, weil sich ihre Verwendung in der Musikpraxis seit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts in weiten Teilen des ehemaligen karolingischen Großreiches durchgesetzt hatte. Anders als Buchstaben- oder Liniennotationen, die dem Mittelalter aus der Antike bekannt waren, stellen Neumen eine Erfindung der Zeit um 800 dar. Doch lässt sich erst rund 100 Jahre später ihre Verwendung auf breiter Basis, nämlich zur Aufzeichnung des sogenannten gregorianischen Chorals, nachweisen. Das kam einer medientechnischen Revolution gleich, denn bis zu dieser Zeit war Musik im europäischen Kulturkreis nur in ganz seltenen Einzelfällen aufgeschrieben worden.

Autoren der späten Karolingerzeit wie Hucbald gingen von einer grundsätzlichen Schreib- und Lesbarkeit von Musik aus – »dass man die Töne wird aufzeichnen und singen können nicht schlechter als Buchstaben schreiben oder lesen« (so die Musica enchiriadis, ein »Musikhandbuch« aus dem späten 9. Jahrhundert). Man sah also zwischen Musik und Sprache eine prinzipielle Vergleichbarkeit. Nach Hucbald war die eindeutige Lesbarkeit von Musik nur mit den »kunstgemäßen Zeichen« zu erreichen. Die Benutzung von Neumenschrift hingegen setzte immer die Kenntnis des genauen melodischen Verlaufs voraus, die durch einen Lehrer vermittelt werden musste. Ohne eine funktionierende mündliche Weitergabe und das stete Auswendiglernen der Musik von Generation zu Generation blieben Neumen sozusagen stumm.


Buchstabennotation: Die Melodie über »Alleluia« ist hier nicht nur mit Neumen notiert, sondern auch mit Buchstaben (i, m, p, c, f), die – anders als die Neumen – für bestimmte Tonhöhen stehen, die der Text im Folgenden erklärt. © Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Codex 169(468), S. 128 (www.e-codices.ch)


Bei der von Hucbald verwendeten Liniennotation stellt, von unten nach oben aufsteigend, jede Linie eine Tonstufe dar, deren Abstände am linken Rand mit den Abkürzungen »t(onus)« für den Ganzton und »s(emitonium)« für den Halbton angegeben sind. Die eingetragenen Textsilben stehen für die einzelnen Töne und lassen so den Melodieverlauf präzise erkennen. © Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Codex 169(468), S. 119 (www.e-codices.ch)

Trotz dieser Voraussetzung von Mündlichkeit waren es gerade die Neumen, die zur ersten musikalischen Gebrauchsschrift im europäischen Mittelalter wurden. Nach Hucbald waren sie nämlich anderen musikalischen Notationen in der Hinsicht überlegen, dass nur sie das relative Vortragstempo, die Gestaltung von Melodiebögen und Abschnitten und besondere stimmtechnische Effekte (etwa den Vortrag mit »zitternder Stimme«) festhalten konnten, was wichtige Bestandteile einer musikalischen Aufführung waren. Neumen taten das nicht nur, wie wir dies aus späteren Zeiten gewohnt sind, durch Zusatzangaben zu einem Notentext, sondern durch die Ausformung des Notenzeichens selbst. Aspekte des Vortrags von Musik galten als so wichtig, dass in der schriftlichen Wiedergabe kein Unterschied zwischen dem Verlauf einer Melodie und der Art ihres Vortrags gemacht wurde. Zwar lässt Neumenschrift das vermissen, was wir heute von einer musikalischen Aufzeichnung vor allem erwarten: die Übermittlung von Tonhöhen. Doch war die nuancierte Aufführungsweise der Musik so wichtig, dass die Neumen bis ins 11./12. Jahrhundert als das zentrale Medium der Verschriftlichung von Musik in Gebrauch blieben.

Seit ungefähr der Wende vom 10. zum 11. Jahrhundert begann man zunehmend, das von Hucbald angesprochene Problem, sich bei der musikalischen Aufzeichnung entweder für eine tonhöhengenaue oder für eine aufführungsgemäße Notation entscheiden zu müssen, zu lösen: Man setzte einfach Neumen auf Linien und verband so zwei ältere Prinzipien miteinander. Die Idee von einer prinzipiellen schriftlichen Darstellbarkeit von Musik, von der wir noch heute wie selbstverständlich ausgehen, wurde nicht mehr aufgegeben. Trotz zahlreicher Veränderungen und Abwandlungen bilden so die Neumen die Basis unserer modernen Notenschrift. Eine grundlegende Innovation bei der Verschriftlichung von Musik hat es seit dem frühen Mittelalter nicht mehr gegeben.ΑΩ MKl

MUSIK. Ein Streifzug durch 12 Jahrhunderte

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