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Musikgeschichte (fast) ohne Musik – Die Antike
ОглавлениеIm Mittelpunkt der Musikgeschichte steht normalerweise die tatsächlich klingende Musik. Von ihr sind aus den einzelnen historischen Epochen unterschiedlich viele Zeugnisse überliefert. Wollen wir die Geschichtsschreibung zurück bis auf die Musik der Antike ausdehnen, so stoßen wir auf ein grundsätzliches Problem: Tondokumente aus dieser Zeit existieren nicht. Aber auch, was damals von Musik mittels Ton- und Rhythmuszeichen schriftlich festgehalten wurde, ist fast restlos verloren. Neben Bränden oder Kriegen dürfte daran vor allem das mit der Zeit nachlassende Interesse schuld gewesen sein.
Heute sind lediglich etwa 50 Schriftfragmente mit antiker Musik bekannt – wohlgemerkt aus rund 1500 Jahren Geschichte. Diese kleine Zahl macht zunächst einmal bewusst, wie wenig wir überhaupt von der damaligen Musik wissen. Man stelle sich vor: In 2000 Jahren würde man von Mozart nur noch ein paar Takte der Zauberflöte kennen oder aus der Popularmusik vielleicht ein paar HipHop-Beats. Im Hinblick auf die Antike scheinen wir es demnach mit einem Unding zu tun zu haben: mit Musikgeschichte (fast) ohne Musik.
Wie unbefriedigend die Lage hinsichtlich antiker Musik ist, zeigt sich, wenn man sie mit der seither entstandenen Musik vergleicht. Im frühen Mittelalter nämlich vollzog sich der »Schritt in die musikalische Schrift« ein zweites Mal, und zwar mit neuem Inhalt: dem Kirchengesang. Vor allem vollzog er sich aber auf neuer Grundlage: Man verwendete jetzt nicht mehr Buchstaben, um die Tonhöhen zu bezeichnen, sondern Neumen (später Noten), die die relative Tonhöhe andeuten. Wie wichtig die Art der Schrift für die musikalische Entwicklung war, zeigt sich am Unterschied zwischen der antiken und der seither entstandenen Musik: Die neue Grundlage führte weiter. Seit dem Mittelalter wird sichtbar, wie die Schrift zwischen Gedanken und Klang, Klang und Gedanken vermitteln kann. Dies löste eine gewaltige musikalische Entwicklung aus.
Musik und die Seele
Gemäß griechischer Legende war der Urmusiker Orpheus in der Lage, durch seinen Gesang wilde Tiere und Menschen zu zähmen. Pythagoras soll die Emotionen seiner Zuhörer durch Modus-Wechsel gelenkt haben, und Platon lehrte, dass Verlangen, Zorn und Vernunft spezifischen Intervallen entsprechen und dass durch solche Intervalle die Seele gereinigt wird und aufsteigen kann. Die spirituelle Natur von Musik war also anerkannt, und auch heute noch wird der Musik in der Musiktherapie heilende Kraft zugeschrieben.
Welche Bedeutung musikalische Schriftzeichen in der Antike überhaupt hatten, ist heute schwer einzuschätzen. Klar ist nur, dass sie nicht weiterentwickelt und deshalb schließlich fallengelassen wurden. Zugleich ging damit auch jene Musik verloren, die bis dahin als erhaltenswert empfunden worden war. Dieser Verlust ist auch im Vergleich mit den antiken Schwesterkünsten auffällig. Von der Architektur und der Skulptur jener Zeit sind zahllose Zeugnisse und Monumente überliefert: Man denke an die Akropolis in Athen oder an die antike Stadt Ephesus in der heutigen Türkei. Und noch in unserer Zeit sind die Geschäftsviertel europäischer Städte vielfach mit Zitaten antiker Architektur wie Säulen und Kapitellen geschmückt, und die Theater führen griechische Tragödien auf.
Etwas Vergleichbares hat die antike Musik nicht zu bieten. Aber auch sie wirkt nach, allerdings auf anderer Ebene, nämlich in unserem Musikbegriff. Der antike Musikbegriff beginnt mit dem altgriechischen Eigenschaftswort »mousike«, in dem das Wort »Muse« steckt. Es bestimmt das Hauptwort »téchne« (»Fertigkeit, Kunst«) näher und meint »die Gesamtheit der von den neun Musen ausgeübten verschiedenen Künste«. Im Mittelpunkt des antiken griechischen Musikbegriffs stand die Einheit von Wort (Poesie), Ton (Melodie) und Bewegung (Tanz), wie sie die Solo- und Chorlyrik einst verkörperte. Die Menschen der Antike waren ergriffen von diesen Künsten und legten darüber in Bild und Wort Zeugnis ab. Diese Dokumente gestatten uns heute zu sehen, in welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen damals musiziert wurde. Und wir lesen, was die Menschen dabei empfanden und welchen Stellenwert sie der Musik einräumten. Überraschen mag heute, welch große Bedeutung der Musik damals beigemessen wurde. Musikalische Dinge konnten selbst zur Staatsangelegenheit werden.
Zum weiteren Umfeld des Musikbegriffs gehörte auch der Logos (»lógos«). Das Bedeutungsfeld dieses altgriechischen Begriffs ist äußerst breit: Es reicht von »Gespräch« (darin enthalten: »Wort«) über »Zahlenverhältnis« bis hin zu »Verstand« und »Vernunft«. Das Zahlenverhältnis 2:1 ist ein solcher Logos. Er drückt zum Beispiel das Unterteilungsverhältnis einer Saite aus, das die Oktave hervorbringt. Auf dieser Erkenntnis beruhte die antike Zahlenharmonik oder »musica«, die man damals zur theoretischen Philosophie rechnete.
Der antike Musikbegriff umfasste demnach weit mehr als der heutige. Seine Betrachtung führt uns nicht so sehr die Kontinuität vor Augen als vielmehr die Unterschiede und den Bruch zwischen damals und heute. Um uns dem Thema »Musik in der Antike« zu nähern, lassen wir uns also auf etwas Altes/Neues, etwas teilweise Fremdes ein.ΑΩ RHa