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Die Weltordnung in der Schmiede – Antike Musiktheorie

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Wie der Gelehrte und Philosoph Boethius in seinem Buch De institutione musica (Grundsätze der Musik) zu Beginn des 6. Jahrhunderts nach Christus berichtet, hörte Pythagoras von Samos (um 570–480 v. Chr.) eines Tages Töne, die aus einer Schmiede erschollen und bestimmte Intervalle bildeten. Er ließ die Schmiedeeisen wiegen – die Balkenwaage war damals schon bekannt –, und ihm fiel auf, dass die verschiedenen Gewichte genauen Zahlenverhältnissen entsprechen. Auf die Saiten eines Instruments übertragen, lässt sich die Gültigkeit dieser Erkenntnis leicht nachprüfen: Die Hälfte einer Gitarrensaite zum Beispiel klingt eine Oktave höher als dieselbe Saite ungeteilt. Das Verhältnis 2:1 ergibt also eine Oktave. Jedes andere Intervall lässt sich ebenfalls in einem je eigenen Zahlenverhältnis ausdrücken.

Im Zusammenhang mit der grundsätzlichen Frage, wie man zu sicherem Wissen gelangen könne, bewies diese Erkenntnis Pythagoras und seinen Nachfolgern, dass sich hinter Erscheinungen (Sinnesdaten) wie dem Oktavklang, der entsteht und vergeht, eine abstrakte, unveränderliche Ordnung verbirgt: in unserem Falle das Zahlenverhältnis (»logos«) 2:1. Dieses Verhältnis ist ewig und allein dem Verstand zugänglich. Aus einer solchen Erkenntnis geht die Definition der antiken Musiktheorie, also des antiken Faches »musica« hervor: Sie handelt von »Zahlen [Mathematik] bezogen auf Klänge [Physik]«.

Ferner beschreibt die antike Musiktheorie Tonsysteme oder Skalen, die aus so gewonnenen Intervallen bestehen. Der Tonvorrat, der antiken Melodien zugrunde liegt, heißt das »vollständige System« (»systema teleion«). Dieses System besteht aus vier Tetrachorden mit hinzugefügtem Tiefton und umfasst zwei Oktaven. Es gliedert sich durch Fixtöne (e, a, d) und veränderliche Stufen, die drei verschiedene Genera bilden. Das sogenannte »diatonische« Genus entfaltet die folgende aufsteigende Intervallreihe (G = Ganzton, H = Halbton): GHGGHGGGHGGHGG, oder in Tönen ausgedrückt: (d)efga¦abcd¦efga¦abcd. Wie die moderne Tonleiter konnte das »vollständige System« von acht verschiedenen Tonhöhen ausgehen. Eine solche Tonreihe oder »Tonos« (griechisch: »Spannung«, gemeint ist: der Saite) wird nach einem griechischen oder kleinasiatischen Volksstamm benannt (dorisch, phrygisch, lydisch und so weiter). Für eine Zeit, in der es weder die heutige Notenschrift noch die Klaviertastatur gab, muss ein solches System als eine außerordentliche geistige Errungenschaft gelten.

Musikalische Weltordnung

Noch heute verwendet die Astrophysik Metaphern, um die Weltordnung (den Kosmos) verständlich zu machen, und die Musik scheint sich dafür wie kaum etwas anderes zu eignen. In seinem Buch The Fabric of the Cosmos (Der Stoff, aus dem der Kosmos ist, 2004) beispielsweise nimmt der Astrophysiker Brian Greene die Geige als Vorbild für die »string theory« (wörtlich: »Saitentheorie«).

Laut Boethius spiegeln die Lehren von Intervall und Tonsystem zwei weitere Zusammenhänge wider, über die die antiken Menschen ebenfalls staunten: die Bahnen der Himmelskörper und die daraus entstehende »Sphärenharmonie« (»musica mundana«) einerseits sowie die »Harmonie« des Menschenkörpers und die Abgestimmtheit seiner Teile (»musica humana«) andererseits. Diesen Komplexen gemeinsam ist die Vorstellung der glücklichen »Zusammenfügung«, die hinter dem Harmoniebegriff steckt (»harmottein«, griechisch: »zusammenfügen«) – im Großen (Makrokosmos) wie im Kleinen (Mikrokosmos).

Im Lehrplan der Kloster- und Kathedralschulen des Mittelalters wiederum bildeten die »musica« und ihre Schwesterdisziplinen Arithmetik, Geometrie und Astronomie das »quadrivium« (»Vierweg«), das zu den »artes liberales« (»freien Künsten«) gehörte und als Vorbereitung für die Philosophie diente. De institutione musica von Boethius war das bevorzugte Lehrbuch dazu, das somit lange aktuell blieb und Wissen über das antike Fach »musica« aufrechterhielt; heute existieren knapp 140 Handschriften des Buches, die vom 9. bis zum 15. Jahrhundert datieren.

Bemerkenswert ist schließlich, dass sich die antike Musiktheorie von späteren Auffassungen von Musiktheorie grundlegend unterscheidet. Die antike Musiktheorie besteht nämlich in der »Betrachtung« (»theoria«) von Zahlenverhältnissen, Intervallen und Tonsystemen, die gemäß unveränderlichen Gesetzen gestaltet und deshalb notwendigerweise so sind, wie sie sind. In späteren Zeiten dagegen kann Musiktheorie zum Beispiel vorschreiben, wie eine Melodie regelgemäß zu gestalten ist, und Konventionen aufstellen, wie Töne aufeinander zu beziehen sind. Sie handelt also von Dingen, die so oder auch anders sein können. Deshalb fällt etwa die Kontrapunkt- oder Harmonielehre je nach historischer Epoche unterschiedlich aus.ΑΩ RHa

Als Antike bezeichnet man die Kulturepoche des Mittelmeerraumes von etwa 1000 vor bis 500 nach Christi Geburt.

»Dieser Mann da, der nach der großen Macht trachtet, wird die Stadt bald umgestürzt haben; sie steht ja vor der Entscheidung …« (Alkaios)

»Lasst uns trinken! Warum warten wir auf die Lampen? Der Tag dauert nur noch ›ein Fingerbreit‹. Bringe, geliebter Junge, die großen, buntverzierten Becher!« (Alkaios)

»Komm’, göttliche Lyra, rede zu mir, werde stimmhaft …« (Sappho)

»Du bist gekommen, ich habe dich heftig verlangt;

Mein Herz, das mit Sehnsucht brannte, hast du gekühlt …« (Sappho)

»Geschöpfe eines einzelnen Tages: Was ist einer? Was ist keiner? Der Mensch ist der Traum eines Schattens. Aber wann immer Zeus-gegebener Glanz kommt, so ist ein leuchtendes Licht auf den Menschen und honigsüße Lebenszeit.« (Pindaros, aus der Pythischen Ode für Aristomenes von Aigina, Gewinner im Ringen bei den Pythischen Spielen 446 v. Chr.)

Das Prinzip der Tonerzeugung mittels eines aus einem Rohrgewächs geschnittenen »Blattes«, daher der Name Rohrblatt-Instrument, hat sich bis heute erhalten. Die moderne Oboe verwendet wie der Aulos ein Doppelblatt, die Klarinette ein Einzelblatt.

Bei den Pythischen Spielen handelte es sich im Gegensatz zu den rein sportlichen Olympischen Spielen ursprünglich um künstlerische Wettkämpfe in Delphi. Mit der Zeit wurden sie auch durch athletische Wettkämpfe und Wagenrennen ergänzt. Die glanzvollen Spiele erinnerten an die Erlegung des Drachens Python durch Apollon, den Gott der Künste, und fanden jeweils zwei Jahre vor den Olympischen Spielen statt.

Ein Tonos, heute auch Transpositionsskala genannt, ist eine Tonleiter mit einer festen Abfolge von Ganz- und Halbtönen, die auf unterschiedliche Stufen transponiert erscheinen kann.

Ein Tetrachord ist eine schrittweise Folge von vier Tönen mit der Quarte als Rahmenintervall.

Die antike Musiktheorie kennt drei Genera (Mehrzahl von lateinisch »genus«): das diatonische, das chromatische und das enharmonische, die sich durch die unterschiedliche innere Gliederung eines Tetrachords unterscheiden.

MUSIK. Ein Streifzug durch 12 Jahrhunderte

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