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Musik übermitteln – Mündlichkeit und Schriftlichkeit

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Um das Jahr 730 beschrieb der Mönch Beda Venerabilis in seiner Kirchengeschichte des englischen Volkes, wie der römische Kirchengesang nach und nach in England eingeführt wurde. So habe etwa Acca, Bischof von Hexham, den Sänger Maban zu sich kommen lassen, um hier die einstimmigen liturgischen Gesänge nach römischer Tradition zu unterrichten. Maban sei zwölf Jahre in Hexham geblieben und habe seinen Schülern sowohl neue Gesänge beigebracht als auch die ihnen bereits bekannten, die mit der Zeit verändert worden waren, wieder auf ihre ursprüngliche Form zurückgeführt.

Zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit

Die Abtsgeschichte des Klosters Sint-Truiden (heutiges Belgien) berichtet, dass Rodulfus (Abt seit 1108) für den liturgischen Gesang eine Handschrift in der Liniennotation Guidos von Arezzo hergestellt habe. Dafür habe er die Melodien, wie sie in seinem Kloster Tradition hatten, leicht verändern müssen. Offensichtlich reichten die notationstechnischen Mittel nicht zur Wiedergabe der Gesänge aus, sodass die Tradition den Möglichkeiten der Notation angepasst werden musste.

Bedas Kirchengeschichte ist die erste Quelle der europäischen Musikgeschichte, in der man von einer Weitergabe von Musikrepertoires von einem Ort (Rom) zu einem weit entlegenen anderen (England) erfährt. Der Bericht über den Sänger Maban lässt erkennen, dass diese Tradierung mündlich geschah. Man verfügte damals noch über keine Notenschrift, die die Übermittlung von Musik von Sänger zu Sänger hätte unterstützen oder gar ersetzen können. Schriftlich festgehalten wurden damals bestenfalls Gesangstexte.

Tatsächlich war eine rein mündliche Überlieferung von Musik in Europa seit der Antike die Regel, sodass Musik stets auswendig gelernt werden musste. Auch im Frankenreich, wo die römischen Kirchengesänge seit etwa 750 eingeführt wurden, geschah dies ohne Verschriftlichung der Musik. Erst infolge der Reformpolitik Karls des Großen, also seit dem späten 9. Jahrhundert, fing man an, Musik schriftlich festzuhalten. In den Zeugnissen vor dieser Zeit ist von musikalischer Notation noch keine Rede. Erst spätere Autoren wie Ekkehart IV. von Sankt Gallen (erste Hälfte 11. Jahrhundert), die diese Vorgänge erneut beschreiben, bringen in ihren Erzählungen musikalische Schrift ins Spiel. Diese war in der Zwischenzeit so üblich geworden, dass man ihre Verwendung auch schon in früheren Zeiten einfach annahm. Dennoch blieb Mündlichkeit weiterhin ein wichtiger Überlieferungsfaktor, da die Notation, derer man sich seit ca. 900 bediente – die sogenannten Neumen – keine genauen Tonhöhen erkennen ließen. Für das Erlernen von Gesängen oder die Aufrechterhaltung einer Tradition blieb der lebendige Kontakt zwischen Lehrer und Schüler deshalb weiterhin unersetzlich.

Allerdings bestand seit der umfangreichen Verwendung von Neumennotation ein wesentlicher Unterschied zu früher. Wenngleich es Neumen nicht erlaubten, Musik »vom Blatt« zu singen, so konnten sie doch als Erinnerungsstütze (so Hucbald von Saint-Amand im späten 9. Jahrhundert) oder als Korrekturinstanz (so Ekkehart IV.) dienen. Denn wenn man einen Gesangsvortrag mit einer Neumenaufzeichnung verglich, konnte man durchaus bemerken, ob Melodiewendungen vergessen wurden, oder auch entscheiden, ob richtig oder falsch gesungen wurde: Tonanzahl und Bewegungsrichtung einer Melodie ließen sich mithilfe von Neumen nämlich präzise und anschaulich darstellen.


Die Elfenbeintafel des späten 10. Jahrhunderts aus Lothringen zeigt einen Ausschnitt aus der gesungenen Liturgie. Die große Figur in der Mitte ist ein Bischof, der von seinen Sängern umgeben ist. Er hält ein Buch in der linken Hand, in dem der Text steht, der gerade erklingt, nämlich der Introitus (Einzugsgesang) am ersten Adventssonntag. Die Sänger können diesen Text aber nicht sehen: Sie singen auswendig. © The Fitzwilliam Museum, Cambridge

Musik war damit unabhängig von einer Aufführung verfügbar geworden. Sie blieb zwar einerseits klingendes Ereignis, konnte nunmehr aber auch dauerhaft bewahrt und betrachtet werden. Wie und warum es zu diesem weitreichenden Schritt kam, ist ungeklärt. Womöglich hat ein gesteigertes Interesse an der Musik seit den Karolingern dazu geführt, dass man sie durch Schriftlichkeit beständig machen wollte. Damit konnten Melodien wie auch die kanonischen Texte (Bibel, liturgische Gebete und Lesungen, Gesangstexte), deren Wortlaut nicht verändert werden durfte, in einer festen Form bewahrt werden. Die Neumenschrift war zu diesem Zweck bestens geeignet, denn sie erlaubte es, auch kleinste Details des Vortrags auf dem Pergament festzuhalten. Zugleich gab es schon seit dem späten 9. Jahrhundert Stimmen, die darauf drängten, Musik solle allein auf Schrift gestützt vermittelbar sein, also ohne einen persönlichen Lehrer, der die Tonhöhen beibrachte. So entwickelte der Benediktinermönch Guido von Arezzo im ersten Drittel des 11. Jahrhunderts eine Liniennotation im Terzabstand mit Schlüsselbuchstaben, die bereits unserer heutigen Liniennotation sehr ähnlich ist.

Guidos Idee hat sich bewährt und durchgesetzt, doch spielte auch weiterhin Mündlichkeit in der europäischen Musikgeschichte eine große Rolle. So wurde etwa aller Wahrscheinlichkeit nach das mehrstimmige »Notre Dame-Repertoire« (um 1200) anfangs wohl nur mündlich überliefert und erst im Laufe des 13. Jahrhunderts nachträglich verschriftlicht. Die schriftliche Darstellung von Musik ist in unserem Kulturkreis also erst ganz allmählich vom Sonder- zum Normalfall geworden.ΑΩ MKl

MUSIK. Ein Streifzug durch 12 Jahrhunderte

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