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Einleitung

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Dieses Buch bietet einen Streifzug durch 12 Jahrhunderte Musikgeschichte. Statt einer durchgehenden Geschichte, die auf Vollständigkeit zielt, werden 183 einzelne Geschichten erzählt: von Menschen und ihrer Musik, von künstlerischen Ereignissen, von Aufführungen, von Instrumenten oder von Orten, wo Musik gemacht wird – kurz: von Dingen, die für das jeweilige Zeitalter wichtig und charakteristisch erscheinen. Gleichwohl ergeben all diese einzelnen Geschichten zusammen, ähnlich einem Mosaik, ein facettenreiches Bild der Musikgeschichte, das auf dem neuesten Stand der Musikforschung Wesentliches auf anschauliche und verständliche Weise vermitteln möchte.

Warum ein »Streifzug«? Zum einen, weil mehr in kurzer Form nur schwer möglich ist – zu umfangreich ist das Gebiet, zu vielfältig sind die Phänomene, selbst wenn man sich wie hier im Wesentlichen auf Europa konzentriert. Zum anderen, weil diese Weise der Reduktion der geschichtlichen Komplexität erlaubt, Geschichte anschaulich zu erzählen. Die Form des Streifzugs lädt die Leserinnen und Leser dazu ein, sich selbst einen Weg durch das Buch zu bahnen und nach Lust und Laune zwischen den Texten hin und her zu springen.

Geschichte zu schreiben – auch einzelne Geschichten wie in diesem Buch – setzt Dokumente voraus, die uns etwas über die Vergangenheit verraten. Musik ist jedoch bekanntlich vergänglich. Und lange Zeit ließ sich, wenn sie verklungen war, allenfalls noch der Eindruck, den sie hinterlassen hatte, in Worte fassen. Die klingende Musik selbst blieb unwiederbringlich verloren. Zwei rund tausend Jahre auseinanderliegende Erfindungen haben das grundlegend geändert: zunächst im ausgehenden 9. Jahrhundert die Erfindung der musikalischen Schrift und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann jene der Klangspeicherung mit technischen Mitteln.

Gäbe es die musikalische Notation nicht, so wüssten wir heute vielleicht aus bildlichen Darstellungen, aus Beschreibungen von Zeitgenossen oder durch möglicherweise erhaltene Instrumente etwas von der Musik von vor tausend Jahren oder von den Werken Johann Sebastian Bachs und Ludwig van Beethovens. Wir hätten jedoch keine Ahnung davon, wie diese Musik aufgebaut war, geschweige denn, wie sie vermutlich einmal geklungen hat. Erst die Schrift gestattete, Musik »festzuhalten«. Die Notation erlaubt es, sich eine ziemlich genaue Klangvorstellung von Musik zu verschaffen und sie singend oder spielend zum Klingen zu bringen, selbst wenn man noch nie einen Ton von ihr gehört hat – und dies auch noch nach Jahrhunderten. Ohne die Möglichkeit, musikalische Gedanken schriftlich festhalten und ausarbeiten zu können, wären auch komplexe Musikformen wie die Vokalpolyphonie oder umfangreiche Werke wie Mozarts Don Giovanni oder Gustav Mahlers weit mehr als eine Stunde dauernde 3. Sinfonie nie entstanden. Und der im 16. Jahrhundert erfundene Notendruck schließlich hat es möglich gemacht, notierte Musik wie Bücher in Form von Drucken in großer Zahl herzustellen und zu verbreiten.

Gäbe es die zweite geschichtsmächtige Erfindung – die Klangspeicherung – nicht, so hätten wir heute keine genaue Vorstellung davon, wie Ella Fitzgerald, die Beatles oder eine ungarische Bäuerin vor 100 Jahren gesungen oder wie die Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler gespielt haben. Ohne solche Geräte wären all jene Formen der Musik, die keine Schriftlichkeit kennen – und das ist ein beträchtlicher Teil – sowie all das, was uns die Partitur eines notierten Werkes nicht verrät, zum Verschwinden auf Nimmerwiederhören verdammt. Aufnahmen erlauben uns aber nicht nur, die Volks-, Popular- und Kunstmusik der jüngeren Vergangenheit klingend zu erleben. Als »Tondokumente«, die von der Zeit ihrer Entstehung zeugen, gestatten sie auch, Geschichte und Geschichten der klingenden Musik nachzuzeichnen, etwa jene der Chopin-Interpretation, des Swing oder von musikalischen Ereignissen wie dem Woodstock-Festival.

Musikgeschichte ist kein kontinuierlicher und einheitlicher Strom. Wie die politische Geschichte, die Sozial- und die Wirtschaftsgeschichte ist auch sie geprägt von einem komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Kräfte, nicht selten verbunden mit Zufällen. Regional völlig unterschiedliche Entwicklungen mögen unvermittelt nebeneinanderstehen, »Blütezeiten« auf »Durststrecken« folgen oder plötzliche Wandlungen zu tiefen Einschnitten führen. Die Geschichtsschreibung gliederte den Verlauf der Musikgeschichte vielfach in Epochen wie Mittelalter, Renaissance, Barock, Klassik, Romantik oder Moderne. All diese Bezeichnungen, die ein herausragendes Charakteristikum als kennzeichnend für einen ganzen Zeitraum nehmen, sind aber genau deshalb in vieler Hinsicht problematisch. Das Buch ist daher unterteilt in kalendarische Zeiträume von einem oder mehreren Jahrhunderten Umfang, die – um bei der Metapher des Titels zu bleiben – kreuz und quer durchstreift werden. Renaissance, Romantik oder Moderne lassen sich so unabhängig von der Frage der Epochengliederung als historische Phänomene thematisieren.

Die 12 Jahrhunderte seit der Erfindung der Notenschrift werden mit zur Gegenwart hin zunehmender Ausführlichkeit dargestellt. Übergreifende Aspekte wie die musikalische Schrift, der soziale Ort der Musik oder die Musikinstrumente kehren dabei wieder und durchziehen das Buch als thematische Fäden von den Anfängen bis zur Gegenwart. Und immer wieder werden Musikstücke, die eine Schlüsselrolle gespielt haben, in den Mittelpunkt gerückt. Vorangestellt ist als Prolog ein Abschnitt über die Anfänge in der griechischen Antike, aus der unser Musikbegriff stammt. Da mit dem Einsatz der Klangspeicherung alle Formen klingender Musik zunehmend besser dokumentiert sind und wir deshalb auch die Geschichte von mündlich überlieferten Musikformen auf Dokumente gegründet schreiben können, ist der mit Abstand umfangreichste Teil des Buches dem 20. und 21. Jahrhundert gewidmet. Während sich die Darstellung bis zum späten 19. Jahrhundert hauptsächlich (aber nicht nur) auf den Bereich der westlichen Kunstmusik beschränkt, wird hier die Perspektive auch auf Volksmusik, Jazz und Popularmusik bis hin zur Weltmusik erweitert.

Das hier vorgelegte Mosaik einer Musikgeschichte ist nicht allein das Werk der beteiligten 18 Autorinnen und Autoren. Um es auf dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung ausarbeiten zu können, musste es sich zwangsläufig auf die Arbeiten zahlreicher Forscherinnen und Forscher stützen, deren Erkenntnisse in die Texte eingeflossen sind. Dem Charakter des Buches entsprechend können diese – ebenso wie die in den Texten vorkommenden Zitate – nicht im Einzelnen nachgewiesen werden. Verwendete Fachbegriffe werden in einem Glossar erklärt, auf das man durch Anklicken der Begriffe geführt wird. Wo das nicht der Fall ist, hilft das Sachregister am Ende des Buches weiter. Durch Volltextsuche finden Sie die entsprechenden Begriffe.

Tobias Bleek und Ulrich Mosch,

im Sommer 2018

MUSIK. Ein Streifzug durch 12 Jahrhunderte

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