Читать книгу MUSIK. Ein Streifzug durch 12 Jahrhunderte - Группа авторов - Страница 11
Musik festhalten – Schrift
ОглавлениеDas ist kein Sehtest. Nein, es ist ein antiker Melodieabschnitt, festgehalten in der damaligen Tonschrift. Töne bezeichnete man in dieser Schrift mit griechischen Buchstaben, die auch verdreht oder auf dem Kopf stehen können und durch weitere Zeichen ergänzt werden. Für Gesang und Instrumentenspiel gab es je 70 solcher Zeichen, also jeweils 70 Tonhöhen (darunter auch Vierteltöne), die einen Gesamtumfang von drei Oktaven plus Terz bilden.
Detail aus dem Orestes-Fragment, Textausschnitt mit Tonzeichen wie im Notenbeispiel übertragen © Österreichische Nationalbibliothek/ http://digital.onb.ac.at, Euripides, Orestes 338-44 (Pöhlmann/West), Papyrus G 02315
Gesangszeichen ebenso wie die Zeichen instrumentaler Begleitung wurden über die einzelnen Silben eines Textes gesetzt. Auch instrumentale Solomusik wurde auf diese Weise aufgezeichnet. Den Rhythmus, der mit den metrischen Werten der einzelnen Textsilben zusammenhängt, deutete man durch Striche, Punkte und andere Zeichen über den Tonzeichen an.
Diese Tonschrift war vom späten 5. Jahrhundert vor bis ins 5. Jahrhundert nach Christus im griechischen Sprachraum geläufig. Wir kennen sie aus Tabellen in antiken Schriften zur Musiklehre, die Zeichen und Ton-Namen zueinander in Beziehung setzen. Wir finden sie aber auch in den rund 50 Schriftfragmenten antiker Musik, die die letzten 2000 Jahre überdauert haben. Das bereits im vorangegangenen Kapitel besprochene Papyrusfragment umfasst sechs Teilverse eines Chorlieds aus der Tragödie Orestes (Athen, 408 v. Chr.) des Euripides. Die Tragödie setzt eine Episode aus dem Mythos um den Trojanischen Krieg in Szene: Um nach Troja segeln zu können, opfert König Agamemnon seine Tochter Iphigenie. Aus dem Krieg zurückgekehrt, wird er von seiner Frau Klytämnestra aus Rache ermordet, die daraufhin ihrerseits vom gemeinsamen Sohn Orest umgebracht wird. Dieser, von Rachegeistern verfolgt, verfällt schließlich dem Wahnsinn. Der Chor singt ihm ein Lied zu, aus dem die folgenden Verse stammen:
Die Chorsänger hatten aufgrund der Tonzeichen den Tonos zu bestimmen, der den Tonraum gestaltet. Die Zeichen dieses Chorliedes gehören dem lydischen Tonos an.
Ein Tonos besteht aus mehreren Tetrachorden, die wiederum je drei Erscheinungsformen (Genera, von lateinisch »genus«: »Gattung«) aufweisen: diatonisch, chromatisch und enharmonisch. Wie bei den modernen Dur- und Moll-Tonleitern sind dabei gewisse Tonstufen veränderlich, wobei neben den uns bekannten Ganz- und Halbtönen im enharmonischen Genus auch Vierteltöne und andere Intervalle vorkommen.
Unser Chorlied ist lydisch enharmonisch oder chromatisch, wobei allerdings das Zeichen Φ (über »te«) dem diatonischen Lydisch angehört. Es handelt sich also um ein »gemischtes« Genus (das Z ist ein Instrumentalzeichen, ebenfalls diatonisch, für die Begleitung). Enharmonisch galt damals zwar als das »tragische Genus«, das also in der Tragödie bevorzugt eingesetzt wurde. Das chromatische Genus jedoch, das sich laut antiken Quellen besonders für starke Emotionen eignet, soll von Euripides erfunden und eingeführt worden sein. Aufgrund der starken Emotionen des Chorliedes sind im Notenbeispiel oben die überlieferten Schriftzeichen dem chromatischen Genus entsprechend übertragen.
Eine Erfindung mit Folgen
Die antike Tonschrift war eng an Wort und Buchstaben gebunden. Erst die »Note« als ein musikalisches Zeichen, das seinen Tonhöhenwert nur im Liniensystem erhält, hat eine autonome Tonkunst ermöglicht. Denn damit konnte man eine Melodie von den ursprünglichen Tonstufen lösen und beliebig auf andere Stufen transponieren. Diese Erfindung sollte die Grundlage für die atemberaubende musikalische Entwicklung der folgenden Jahrhunderte werden.
Für die Einheit der Musenkünste von Wort, Ton und Bewegung war die antike Tonschrift ideal. Sie war nicht auf Noten (lateinisch »notae«: »Zeichen«) gegründet, die ihren Tonhöhenwert erst im Liniensystem erhalten, sondern auf die Tonhöhe direkt angebende Buchstaben. Daher kommt sie ohne Liniensystem aus und ist »textnah«. Und sie deutet auch Bewegungen an. Denn »Arsis« und »Thesis«, das metrische Auf und Ab, wird durch einen Punkt beziehungsweise keinen Punkt markiert. Auf und Ab von was? Vom Fuß des Tanzenden und Singenden (noch heute spricht man in Bezug auf das Auf und Ab der betonten und unbetonten Silben eines Gedichts vom »Versfuß«). Die antike Tonschrift verband also die Musenkünste in harmonischer Ausgeglichenheit.ΑΩ RHa