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Unterweisung und Beurteilung statt philosophischer Anschauung – Musiktheorie
ОглавлениеDer Reichenauer Mönch Hermannus Contractus (»der Lahme«) beschrieb in seiner musikalischen Lehrschrift aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts als Ziel jeder vernünftigen Beschäftigung mit Musik das Komponieren neuer Gesänge, die Beurteilung der bereits vorliegenden anhand von bestimmten Regeln und ihren angemessenen Vortrag. Wer all dies beherrsche, dürfe zu Recht ein »musicus« (»musikalischer Fachmann«) genannt werden. Dies ist insofern überraschend, als es seit der Spätantike üblich gewesen war, denjenigen als »musicus« zu bezeichnen, der sich mit den theoretischen Grundlagen von Musik beschäftigte, selbst aber keine Musik machte. Was war in der Zwischenzeit geschehen?
Seit der Antike bestand im europäischen Kulturkreis ein prinzipieller Unterschied zwischen der Musik als Wissenschaft und ihrer Ausübung. Der Musiktheoretiker untersuchte etwa die mathematischen Grundlagen von Musik wie die Proportionen der Intervalle, von denen man annahm, dass sie die gesamte, sichtbare wie unsichtbare Natur beherrschten und zusammenhielten. So existierte etwa die Vorstellung, dass die Bewegung der Planeten Töne erzeuge, denen solche Intervallproportionen zugrunde lägen. Eine Verbindung zur Musikpraxis versuchte der Theoretiker erst gar nicht herzustellen. Diese Auffassung von der Musik als einer Wissenschaft ohne Praxisbezug wurde dem Mittelalter vornehmlich durch den spätantiken Gelehrten Boethius (um 480 – 525/26) vermittelt.
Die Anfänge einer mittelalterlichen Musiktheorie liegen im ausgehenden 8. Jahrhundert, als Karl der Große im Frankenreich die Bildungsstandards zu verbessern versuchte. Die fränkischen Musikgelehrten orientierten sich an der antiken Musiktheorie, doch im Unterschied zu früher stellten sie von Anfang an einen Bezug zu ihrer Musikpraxis her, und zwar zum gregorianischen Choral. Dieser war im Frankenreich seit etwa 750 eingeführt worden, also für die fränkischen Sänger ein neues Repertoire, das sie sich erst aneignen mussten. Um dies zu vereinfachen, wandte man Elemente der antiken Musiklehre auf die einstimmigen Gesänge der römischen Liturgie an.
Das System der mittelalterlichen Modi bestand aus acht Tonarten. Zwar gab es nur vier mögliche Schlusstöne (hier als »leere« Notenköpfe dargestellt), doch konnten D-, E-, F- und G-Modus jeweils in einer relativ hoch (authentisch) und in einer relativ tief (plagal) liegenden Form auftreten. Mitunter wurden die Modi mit den antiken Namen dorisch, phrygisch, lydisch und mixolydisch belegt und die plagale Form durch den Zusatz hypo- (»unter-«) gekennzeichnet (hypodorisch usw.).
Eines dieser Elemente war die Lehre von unterschiedlichen Tonarten, die jeweils eine Oktave umfassen. Daraus leiteten die fränkischen Musiker die sogenannten Modi auf den Tönen d, e, f und g ab. Auf dieser Grundlage wiederum wurden die einzelnen Gesänge des gregorianischen Chorals tonartlich bestimmt, was für die tägliche Gesangspraxis im Kloster oder an einer Kathedrale wichtig war: etwa wenn zu einem Gesang der passende, nämlich tonartlich entsprechende Psalmton ausgewählt werden musste. Ein anderes Element war die Lehre vom zur Verfügung stehenden Tonraum und seiner Gliederung. Man übernahm die antike Vorstellung einer aus zwei Oktaven bestehenden Skala und einer Untergliederung derselben in kleinere Intervalle (wie Quarten). Der im Frühmittelalter zugrunde gelegte Tonraum wies in der Mitte (auch dies ein antikes Erbe) die Wahlmöglichkeit zwischen b und h auf. Die spätere Ausweitung dieses Prinzips auf andere Tonstufen sollte der Ursprung unserer heutigen, zwölftönig chromatischen Skala werden.
Der Psalmton ist ein melodisches Modell zum Vortrag von Psalmversen, das diese musikalisch in Anfang, Mitte und Schluss gliedert. Abgesehen von diesen melodisch herausgehobenen Positionen wird prinzipiell auf einem einzigen Ton (dem »Rezitationston«) rezitiert. Psalmtöne liegen in allen acht Tonarten vor. Hier der erste Ton nach einem Traktat aus dem 10. Jahrhundert.
In der mittelalterlichen Musiktheorie erscheinen diese Kriterien stets anwendungsbezogen. Sie wurden wie in der Antike auch von den mittelalterlichen Autoren mit vernunftbegründeten Argumenten wie etwa mathematischer Berechnung abgestützt. Im Zweifelsfall aber, wenn zum Beispiel ein als praxistauglich erkanntes Intervall mathematisch schwer zu begründen war, gab man der Praxis den Vorzug.
Der Schwerpunkt der theoretischen Beschäftigung mit Musik verschob sich also zunehmend von der philosophischen Anschauung auf die Unterweisung im Gesangsvortrag und die Anleitung zur Beurteilung von Gesängen. War Musiktheorie im Mittelalter zunächst Mittel zum Einüben von Musik, so erfasste sie spätestens mit Beginn des 11. Jahrhunderts auch das Komponieren neuer Gesänge. Sie stellte dann nicht nur Beurteilungskriterien zur Verfügung, sondern war auch Regelwerk für das musikalische Neuschaffen. So befanden sich seit dem Mittelalter musikalische Theorie und das Komponieren in einem fruchtbaren, wenn auch nicht immer einfachen Verhältnis zueinander.ΑΩ MKl