Читать книгу MUSIK. Ein Streifzug durch 12 Jahrhunderte - Группа авторов - Страница 18
Melodie als Textausdruck – Das gregorianische Offertorium »Vir erat in terra«
ОглавлениеDer Geistliche Amalar von Metz kommentierte wohl in den Dreißigerjahren des 9. Jahrhunderts einen gregorianischen Gesang, der ihm wegen seines Textes aufgefallen war. Es handelt sich um das Offertorium Vir erat in terra, also um einen Gesang, der in der Messfeier die Darbringung der Gaben von Brot und Wein begleitet (»Offertorium« bedeutet »Opferung«). Sein Text erzählt vom biblischen Hiob, der »einfach, rechtschaffen und gottesfürchtig« war, aber vom Teufel auf die Probe gestellt wurde: Er verlor seinen Besitz und seine Nachkommen und wurde mit einer schweren Krankheit geschlagen. Dies wird im ersten Teil des Gesangs berichtet, dem Refrain des Offertoriums, der nach den darauf folgenden vier Versen erneut vorgetragen wird.
Offertorium Vir erat, 1. Vers, Übertragung nach der Handschrift Montpellier, 11. Jahrhundert
Der Text des Offertoriums »Vir erat« (Beginn)
(Refrain:) Es lebte ein Mann auf der Erde mit Namen Hiob, einfach und rechtschaffen und gottesfürchtig. Diesen umwarb der Satan, um ihn zu verführen. Und es wurde ihm von Gott die Macht dazu gegeben hinsichtlich seines Vermögens und seines Fleisches. Er verlor nämlich seinen ganzen Besitz und seine Kinder, und sein Körper wurde von einem schlimmen Aussatz befallen. (Vers 1:) O dass man doch meine Sünden wägen möge, o dass man doch meine Sünden wägen möge, wegen derer ich Zorn verdient habe, wegen derer ich Zorn verdient habe, und das Unglück, und das Unglück, und das Unglück, das ich erleide, und das so schwer erscheint.
Diese Verse hatten das Interesse Amalars geweckt. Anders als im Refrainteil, der von einer Erzählerstimme vorgetragen wird, vernimmt man in den Versen die Stimme »des kranken und leidenden Hiob«. Dieser beklagt hier sein Schicksal, wobei er einzelne Satzbestandteile mehrfach wiederholt: »O dass man doch meine Sünden wägen möge, o dass man doch meine Sünden wägen möge …«. Nach Amalar stellen diese Wiederholungen den Zustand Hiobs dar, denn »der Kranke, der mit seinem schwer gehenden Atem weder kräftig noch stark ist, pflegt unvollständige Wörter oft zu wiederholen«. Die Verse lassen den Hörer so direkt an Hiobs Leid teilnehmen.
Der Text von Vir erat beruht zwar auf dem Buch Hiob, doch finden sich die Wiederholungen in der Bibel nicht. Sie wurden vom »Autor des Gesangs« (so Amalar) eigens hinzugesetzt, um die soeben beschriebene Wirkung zu erzielen. Dies ist generell für gregorianische Gesänge charakteristisch: In den meisten Fällen sind ihre Texte der Bibel entnommen, normalerweise aber nicht wörtlich, sondern mit Auslassungen, Umstellungen und Umformulierungen. Erst durch diese Änderungen wurden sie für einen gesanglichen Vortrag in liturgischem Rahmen geeignet, denn sie konnten so, aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelöst, für sich bestehen. Wie das Beispiel Vir erat zeigt, konnte diese textliche Umarbeitung bis hin zu einem emotionalen Einwirken auf den Zuhörer gehen.
Die musikalische Fassung des Offertoriums lässt erkennen, wie sich der Komponist die textlichen Wiederholungen zunutze gemacht hat, indem er sie mit Abwandlungen, Steigerungen und Kontrasten im Melodischen verband: Sie bleiben musikalisch nicht gleich, sondern werden variiert.
Der Vers setzt relativ hoch ein (1a), mit einer Konzentration auf den Ton c als Achse: »Utinam appenderentur peccata mea« (»O dass man doch meine Sünden wägen möge«). Für die Wiederholung des Textabschnitts (1b) wird diese Achse im Melodieverlauf erstmals deutlich überboten mit einer Auslenkung zum hohen g und im zeitlichen Verlauf durch größere Ausdehnung (43 Töne beim ersten Mal, 65 Töne beim zweiten Mal). Weiter unten ist die zweimalige Wiederholung von »et calamitas« (»und das Unglück«) zu vergleichen. Diese textliche Wendung wird zunächst (2a) relativ schlicht vorgetragen, mit einem Aufstieg von f über a zum Achsenton c, der im Folgenden umspielt wird. Dann (2b) erklingt der Text in höherer Lage, ausgehend von c und mit mehrfacher, geradezu einhämmernder Wiederholung des Sprungs f–c, erneut, bevor für die abermalige Wiederkehr des Textes (2c) die Melodie vom ersten Mal fast notengetreu noch einmal erklingt. Musikalisch ergibt sich dadurch eine bogenförmige Verlaufskurve mit Steigerung und anschließender Zurücknahme.
Prinzipiell kann man die gregorianischen Melodien in der dargelegten Weise beschreiben. Bestimmte Tonstufen und Bewegungsmuster sind darin in engem Bezug auf die zugrunde liegende Textstruktur genutzt, um melodische Linien von anwachsender und zurückgehender Spannungsintensität auszubilden. Damit sind diese Melodien mehr als ein bloßes Mittel zum Vortrag eines Textes: Sie unterstützen auch dessen sprachliche und inhaltliche Qualitäten und bringen diese auf ihre eigene Weise zum Ausdruck.ΑΩ MKl