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Römische Liturgie im Frankenreich – Der gregorianische Gesang

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Die um das Jahr 1000 in Sankt Gallen geschriebene Handschrift, der sogenannte Hartker-Codex, enthält zu Beginn eine Darstellung Papst Gregors des Großen. Dieser wird links auf einem Thron sitzend gezeigt, wie er von einer Taube – dem Symbol des Heiligen Geistes – die Melodien vernimmt, die er dem rechts neben ihm sitzenden Schreiber diktiert. Der Schreiber notiert sie in Form linienloser Neumen, wie sie zur Entstehungszeit der Handschrift in Sankt Gallen in Gebrauch waren. © St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 390, S. 13 (www.e-codices.ch)

Walahfrid Strabo, Abt des Bodenseeklosters Reichenau, schrieb um das Jahr 840 eine Liturgiegeschichte, in der er als einer der ersten von der Einführung des römischen liturgischen Gesangs im Frankenreich berichtete. Nach Walahfrid geschah dies um 755, als Papst Stephan II. beim fränkischen König Pippin III. Schutz vor den Langobarden suchte: Auf Verlangen Pippins hätten damals die Begleiter des Papstes den römischen Gesang ins Frankenreich gebracht, der sich seither fast überall ausgebreitet habe.

Was hier in knappen und nüchternen Worten beschrieben wird, war ein Vorgang von großer Tragweite. Nicht, dass man im Karolingerreich zuvor keine gesungene Liturgie besessen hätte. Walahfrid selbst schreibt, es habe bis zu diesem Zeitpunkt nördlich der Alpen (also in »Gallien«) eine gallikanische Kirche mit eigenen liturgischen Riten existiert. Die fränkische Musiktradition ist also durch die römische ersetzt worden. Warum die Franken sich zu einem derartigen Traditionsbruch entschlossen haben, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Jedenfalls wurde der römische Gesang durch die Franken spätestens seit dem ausgehenden 8. Jahrhundert als ein Besitz betrachtet, auf den man stolz war. Man gab ihm nämlich zu dieser Zeit den Namen »gregorianischer Gesang« nach Papst Gregor I. (um 540 – 604), der zumindest als Sammler, Bearbeiter und Lehrer dieser Musik galt, wenn nicht gar als ihr Komponist. Bis heute trägt sie diesen Namen, obwohl nichts für die Richtigkeit der Legende vom Papst als ihrem Schöpfer spricht. Und nach wie vor wird sie von der katholischen Kirche als die Grundlage ihrer liturgischen Musik betrachtet und besonders in Klöstern regelmäßig gesungen.

Wie einfach oder schwierig sich diese »Romanisierung« der fränkischen Liturgie gestaltete, ist unklar. Während Walahfrid nichts von Problemen berichtet, sprechen andere Autoren von Auseinandersetzungen zwischen römischen und fränkischen Sängern um die richtige Gestalt der Melodien. Handschriften, die Melodien enthalten, sind aber erst aus der Zeit um 900 bekannt und bis ins 11. Jahrhundert hinein ausschließlich aus dem Norden des Reiches. Die Melodieüberlieferung in diesen Quellen ist sehr einheitlich, sodass zumindest auf fränkischer Seite spätestens um 900 keine Differenzen mehr bestanden.

Der römische liturgische Gesang erweist sich nicht nur als einheitlich, sondern auch als systematisch geordnet. Zum einen gibt es eine Trennung zwischen Gesängen für die Messe und solchen für das Stundengebet. Zum zweiten gibt es eine musikalische Unterscheidung zwischen Gesängen, die eine liturgische Handlung begleiten bzw. den Vortrag von Psalmen umrahmen (Antiphonen), und solchen, die auf eine Lesung folgen bzw. der Meditation dienen (Responsorien): Responsorien sind melodisch aufwendiger gestaltet als Antiphonen und enthalten umfangreiche und sängerisch anspruchsvolle solistische Verse. Und schließlich sind sogar vergleichsweise einfache musikalische Vortragsmodelle, die unterschiedlichen Texten angepasst werden können, je nach ihrem Platz im Ritus abgestuft: Am schlichtesten sind diese Modelle für den Vortrag von Psalmen, ausgeschmückter für Texte wie den Lobgesang Marias und melodisch am reichsten für die Verse von Responsorien des Stundengebets. Walahfrid zufolge war es eben diese »vernünftige Einrichtung«, die zur flächendeckenden Verbreitung und Akzeptanz der römischen Gesänge führte.

Was passiert, wenn man in der Liturgie von der Norm abweicht

Papst Leo IV. wies um die Mitte des 9. Jahrhunderts einen Abt namens Honoratus auf das Schärfste zurecht, weil er den gregorianischen Gesang vernachlässigt habe. Dafür drohte ihm der Papst mit Ausschluss aus der kirchlichen Gemeinschaft. Eine Abweichung im Gesang war also ein schwerwiegendes Vergehen, das hart bestraft werden konnte.

Doch auf wieviel Zustimmung oder Ablehnung ist dieses Repertoire unter den fränkischen Sängern des 8. Jahrhunderts gestoßen, die ihre eigene Tradition aufgeben sollten? Walahfrid erwähnt nur ganz beiläufig und vom Hörensagen, dass in einigen Fällen gallikanische Gesänge unter die römischen gemischt worden seien. Offenbar haben die Franken versucht, wenigstens Teile ihrer eigenen Tradition im Verborgenen zu retten. Noch wichtiger scheint aber etwas anderes gewesen zu sein: Die Franken übernahmen den römischen Gesang nicht nur, sondern sie erweiterten ihn auch. Eine Veränderung des römischen Gesangs selbst war undenkbar, da er auf päpstlichen Ursprung zurückgeführt wurde. Daher schufen die fränkischen Sänger einen stetig anwachsenden Bestand neuer Texte und Melodien, die entweder mit den vorhandenen Gesängen verbunden wurden (Tropen) oder selbstständig waren und einen eigenen Platz in der Messe bekamen (Sequenzen). Der römische Gesang hat also in doppelter Hinsicht Wirkung gezeigt: Einerseits war er selbst geschichtlichen Veränderungen entzogen und daher stets gegenwärtig, andererseits regte er die Komposition neuer Musik an. Dieses stetige Neuschaffen von Musik sollte seit dem Mittelalter ein durchgängiges Merkmal der europäischen Musikgeschichte bleiben.ΑΩ MKl

MUSIK. Ein Streifzug durch 12 Jahrhunderte

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