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»Christliches Zeitalter« oder » Mittelalter«? – Das 9. bis 14. Jahrhundert

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Wer in unseren Tagen an die Zeit vor ungefähr 1500 denkt, dem wird dafür wohl fast unweigerlich der Begriff »Mittelalter« oder gar »finsteres Mittelalter« in den Sinn kommen: die übliche Bezeichnung für das Zeitalter zwischen der griechisch-römischen Antike einerseits, die mit dem Zerfall des Weströmischen Reiches in den Jahren 475/76 durch die Vertreibung der letzten Kaiser zu Ende gegangen war, und der Neuzeit andererseits, die im 15. Jahrhundert mit der »Renaissance« anbrach.

Mittelalter zur Unterhaltung

Seit den 1980er-Jahren erfreuen sich Mittelaltermärkte, Ritterturniere oder »Rittergelage« zunehmender Beliebtheit. Dabei spielt auch die Musik eine große Rolle. Mittlerweile hat sich eine musikalische Mittelalterszene gebildet, die dabei mit Fiedel, Drehleier, Harfe, Flöte, Krummhorn oder Schalmei aufspielt. Die Musiker erheben aber keinen Anspruch auf »historische Genauigkeit«. Oberstes Gebot ihrer »mittelalterlichen Musik« von heute ist gute Unterhaltung.

Die Dreiteilung der Geschichte mit einem »Mittelalter« zwischen Antike und Neuzeit setzte sich schon im 17. Jahrhundert allgemein durch und hat sich weithin bis heute gehalten. Sie ist aber Ausdruck des Geschichtsverständnisses jener Zeit, das den rund tausend Jahren Geschichte, die der Begriff bezeichnen soll, nicht gerecht wird. Der Begriff »Mittelalter« schließt nämlich den Blickwinkel der Nachgeborenen ein: Denn die Menschen im sogenannten »Mittelalter« konnten ja nicht wissen, dass sie angeblich in einer Übergangszeit zwischen zwei Zeitaltern lebten. Das hätte die Kenntnis des Ziels der historischen Entwicklung vorausgesetzt – eben jene Neuzeit, die unter anderem mit den großen wissenschaftlichen Entdeckungen und dem allmählichen Verschwinden der weißen Flecken auf den Landkarten verbunden gewesen wäre.

Die Menschen im »Mittelalter« verstanden ihr Zeitalter, das mit einer vollständigen Umgestaltung der politischen Geografie und der Christianisierung weiter Teile Europas einherging, jedoch anders. Für sie war es das im Glauben allen anderen Zeitaltern überlegene »christliche Zeitalter«, das mit Christi Geburt begonnen hatte und aus ihrer Sicht mit dem Jüngsten Tag enden würde. Ihre Geschichtsauffassung war theologisch, das heißt in der Bibel begründet.

Diese »heilsgeschichtliche« Auffassung ersetzten humanistische Gelehrte im 15. Jahrhundert durch eine weltliche. An die Stelle der Bibel trat bei ihnen als Bezugspunkt und Maßstab die (idealisierte) Antike, an die man anzuknüpfen versuchte und der man nacheifern wollte. Das eben vergangene Zeitalter erschien im Vergleich zur antiken Kunst und Kultur als ein zivilisatorischer Rückschritt, als ein Rückfall auf allen Gebieten menschlicher Errungenschaften: der Sprache, der Dichtung, der Architektur, der gesellschaftlichen Ordnung und nicht zuletzt auch der Technik.

Schon ein flüchtiger Blick auf diesen langen Zeitraum zwischen Antike und Neuzeit lässt erkennen, dass für die Nachgeborenen kein Grund zur Herablassung besteht. Denn mit dieser Zeit verbinden wir große menschliche Schöpfungen wie die Dichtung Dantes, die Malerei Giottos, die Philosophie von Thomas von Aquin, die überwältigende Architektur der gotischen Kathedralen oder die Vokalpolyphonie, die für die Menschen in jener Zeit im wahrsten Sinne »unerhört« gewesen sein muss.

Grundlage der Entfaltung der Vokalpolyphonie war die Erfindung der musikalischen Schrift im 9. Jahrhundert. Die Musikschrift war zwar zunächst ganz praktisch motiviert durch Reformbemühungen der Kirche in Bezug auf den Choral: Die schriftliche Festlegung sollte in der christlichen Welt eine weitgehend einheitliche Ausführung des liturgischen Gesangs sicherstellen. Die Schriftlichkeit war daher von Anfang an eng verbunden mit der Kanonisierung: der Festlegung eines Kanons von Gesängen, die von höchster kirchlicher Stelle genehmigt waren.

Die Erfindung der musikalischen Notation entpuppte sich aber aus verschiedenen Gründen bald als ein für die Musikgeschichte Europas – und später der ganzen Welt – wahrhaft epochemachendes Ereignis: Zum einen erlaubt die Notation, Musik wie ein schriftlich festgehaltenes Gedicht von seinem Schöpfer zu lösen, sie an andere Musiker zu übermitteln oder einfach aufzubewahren. Die Schriftlichkeit war daher von Anfang an verbunden mit dem Sammeln: Man trug in Codices Musikstücke zusammen, die für notierenswert, das heißt für bewahrenswert gehalten wurden. Und diese Stücke konnten als Quelle der Anregung oder als Vorlage zur weiteren Verarbeitung dienen. Zum zweiten gestattete die Notation durch Ausarbeitung von Musikstücken auf dem Pergament, die musikalische Komplexität und die kontrapunktischen Künste in bis dahin ungeahnter Weise zu steigern. Und schließlich entstand durch die überall vereinheitlichte Liturgie ein umfassender Kulturraum, der den Anfang einer gemeinsamen, schriftbasierten Musikkultur markiert – eine Errungenschaft, die der französische Historiker Jacques Le Goff auf derselben Ebene ansiedelt wie die in derselben Zeit entstehende »europäische Idee«. Die Schriftlichkeit ermöglicht daher nicht nur, noch heute Musik aus dieser Zeit zu singen oder zu spielen, die sonst unwiederbringlich verklungen wäre. Sie schuf die Grundlagen für jene eigentümliche geschichtliche Dynamik, die die europäische Musikgeschichte von der anderer Kulturen unterscheidet.ΑΩ UMo

MUSIK. Ein Streifzug durch 12 Jahrhunderte

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