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3 Die Disziplinen stellen sich vor 3.1 Geriatrie Cornelius Bollheimer und Dieter Lüttje 3.1.1 Aufgabengebiet
ОглавлениеNach der gültigen europäischen Konsensusdefinition aus dem Jahre 2008 versteht sich die Geriatrie als (a.) das zuständige medizinische Fachgebiet für Alterungsprozesse sowie (b.) für präventive, diagnostische, therapeutische, rehabilitative und palliativmedizinische Aspekte von Erkrankungen bei Menschen ab ungefähr 65 Jahren (sog. Malta-Definition, UEMS-GMS 2008). Die Geriatrie ist damit auf den ersten Blick wie die Kinder- und Jugendheilkunde eine altersdefinierte Fachdisziplin, wobei jedoch das kalendarische Alter als hinreichendes Eingangskriterium für die geriatrische Zuständigkeit relativiert werden muss.
Nach dem in Deutschland üblichen Verständnis und konsentiert durch die maßgeblichen Fachgesellschaften (DGG, DGGG) und Berufsorganisation (BVG) ist ein Patientenalter unter 80 Lebensjahren nur dann in einen geriatrischen Kontext zu bringen, wenn eine sogenannte Geriatrie-typische Multimorbidität vorliegt ( Kap. 5.3).
Konkretisierende Ausführungen zu dem abstrakten Begriff der Geriatrie-typischen Multimorbidität finden sich in der Begutachtungsanleitung zur Vorsorge und Rehabilitation des MDS (Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen) aus dem Jahre 2018: Demnach beschreibt Geriatrie-typische Multimorbidität das Vorliegen von mindestens zwei Erkrankungen mit sozialmedizinischer Relevanz, wozu entsprechend der International Classification of Functioning (ICF, Kap. 45) sog. aktivitätsbeeinträchtigende Schädigungen identifiziert werden müssen. Solche Schädigungen können z. B. einem klassischen geriatrischen Syndrom (Inkontinenz, s. u.) entsprechen oder aber auch ein psychisches (kognitives Defizit, Altersdepression) bzw. organisches Korrelat (Dekubitus) besitzen. Der MDS hat hierfür eine entsprechende Liste mit Ankerbegriffen zusammengestellt (MDS 2018).
Ab einer Altersgrenze von 80 Jahren wird in puncto Geriatrie auch mit dem schärfer umrissenen Begriff der Vulnerabilität argumentiert. Vulnerabilität bezeichnet dabei (a.) das in der vierten Lebensphase regelhafte Auftreten von (a.) Komplikationen und Folgeerkrankungen, (b.) die generell höhere Gefahr einer Chronifizierung sowie (c.) das erhöhte Risiko eines Verlustes der Autonomie mit Verschlechterung des Selbsthilfestatus. Gerade im Kontext dieser Vulnerabilität erwächst die Kernkompetenz und Eigenständigkeit der Geriatrie.
In Deutschland wird die Geriatrie vorwiegend als stationäres Fachgebiet entweder in akutmedizinischen Krankenhäusern (entsprechend § 39 bzw. § 109 SGB V) oder in Rehabilitationskliniken (entsprechend § 40 bzw. § 111 SGB V) praktiziert ( Kap. 46). Die Geriatrie ist dabei eine gebietsüberschreitende Spezialität (sog. »Supraspezialität« oder Querschnittsfach) mit sich aus der Multimorbidität ergebenden simultanen und gleichberechtigten Behandlungsaufträgen. Das vorrangige Behandlungsziel der Geriatrie besteht in Anlehnung an den Fachbegriff der Funktionsfähigkeit in der Verbesserung der Lebensqualität und der Aufrechterhaltung der Patientenautonomie ( Kap. 45). Hieran müssen sich alle einzelnen medizinischen Maßnahmen der Geriatrie messen lassen.
Die ärztliche Herangehensweise der Geriatrie ist im akutstationären Bereich sehr stark von der somatischen Medizin geprägt, die jedoch nur als notwendige (nicht hinreichende) Voraussetzung einer erfolgreichen Geriatrie gelten kann. Neben detaillierter Fachkenntnis in der Allgemeinen Inneren Medizin muss dabei als »Grundhandwerkszeug« eine neurologische, rehabilitationsmedizinische und auch psychiatrische Nebenkompetenz hinzutreten ( Kap. 3.2). Dieser ganzheitliche Blick der Geriatrie umfasst nicht nur die somatische Komponente mit ihrer Organpathologie, sondern auch die Psyche und den sozialen Bereich im Sinne des biopsychosozialen Krankheitsmodells (Egger 2005). Der holistischen Sichtweise wird dabei in der geriatrischen Diagnostik durch das aufwändige multidimensional-interdisziplinäre geriatrische Basisasssessment (GBA) Rechnung getragen ( Kap. 44). Interdisziplinär bzw. genauer multiprofessionell bedeutet dabei den über den Geriater hinausgehenden, bedarfsgerechten Einbezug verschiedenster Professionen (Pflege, Physio- und Ergotherapie, klinische (Neuro-)Psychologie, Logopädie, Ernährungswissenschaft, Sozialdienst, Seelsorge; Kap. 50).
Neben Funktionsfähigkeit und geriatrischem Assessment sind als dritter Schlüsselbegriff der Geriatrie die sogenannten geriatrischen Syndrome zu erwähnen ( Kap. 6). Zu den geriatrischen Syndromen werden im deutschen Sprachgebrauch u. a. Immobilität, Sturzneigung (Instabilität), und Inkontinenz, Mangelernährung, iatrogene Schädigung (insbesondere durch Polypharmazie), Dekubitus und Störungen der Wundheilung sowie im weiteren Sinne Gebrechlichkeit (Frailty) gerechnet ( Kap. 7–12 und Kap. 5.2). Weitere häufige altersmedizinisch relevante Syndrome beinhalten eine psychosoziale Dimension und profitieren in Diagnose und Behandlung von einer engen Kooperation mit der Gerontopsychiatrie, -psychosomatik und -psychotherapie sowie mit der (angewandten) Gerontologie ( Kap. 3.2 und Kap. 3.3). Zu diesen Syndromen, deren Prävention und Behandlung teilweise eine Kernkompetenz dieser Disziplinen darstellen, zählen Delir (akute Verwirrtheit), leichte kognitive Beeinträchtigung und Demenz (kognitiver Abbau), Depression und Suizidalität, (pathologische) Angst, psychotische Syndrome (Wahn, Halluzination), Sucht, (chronische) Schmerzen, somatoforme Störungen und Anpassungsstörungen, Schlafstörungen, Störungen der Paar- und Familienbeziehungen und Isolation. Im vorliegenden Buch sind diesen Entitäten einzelne, detaillierte Kapitel gewidmet ( Kap. 13–23 und Kap. 38).
Das detaillierte Verständnis und die konkrete Behandlung der geriatrischen Syndrome machen die Kernkompetenz der Geriatrie aus, womit wiederum auf die zentralen Behandlungsziele Bezug genommen wird, nämlich die Verbesserung der Lebensqualität und die Aufrechterhaltung der Patientenautonomie (s. o.). Dies impliziert im Übrigen auch, dass der Geriater keinen universellen Behandlungsanspruch für alte Menschen erhebt, sondern bei allen Erkrankungen, deren Behandlung über die Grundweiterbildung in der konservativen Medizin hinausgeht, selbstverständlich mit den jeweiligen Fachdisziplinen zusammenarbeitet. Für den essenziellen Begriff der geriatrischen Syndrome bleibt kritisch anzumerken, dass es keine klare Definition bzw. Auflistung im Sinne einer Positivliste gibt, sodass man bislang den Eindruck gewinnt, dass jede im Alter gemeinhin anzutreffende körperliche oder geistige Kondition im Zweifelsfall als geriatrisches Syndrom gewertet werden kann. Auch erscheint im geriatrischen Kontext die Bezeichnung »Syndrom« nosologisch irreführend. Während die traditionelle Auffassung vom medizinischen Syndrom ein Cluster-artiges Auftreten mehrerer definierter Symptome unter der Annahme eines (häufig unbekannten) übergeordneten ätiopathogenetischen Prinzips beinhaltet, verhält es sich beim geriatrischen Syndrom geradezu umgekehrt: Klinisch-phänomenologisch steht hier in der Regel nur ein Leitsymptom im Vordergrund, das die Endstrecke eines komplexen Zusammenspiels multipler ätiopathogenetischer Faktoren in unterschiedlichster Kombination darstellt (Flacker 2003).