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2.7 Intensivmedizinisch induzierte Probleme

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Am Ende behandelt Intensivmedizin aber auch eine Vielzahl von Syndromen und Symptomen, die sie selbst induziert. Dabei reicht das Spektrum vom bewusst in Kauf genommenen „Kollateralschäden“ (z. B. Gebrauch von Medikamenten und Substanzen die unerwünscht, aber toleriert, Organ- oder Systemschäden hervorrufen) bis hin zu nicht intendierten Beeinträchtigungen oder Schädigungen (z. B. nosokomiale Infektionen, beatmungsassoziierter Lungenschaden).


Intensivmedizinischer Fortschritt mehrt die Zahl der verfügbaren medikamentösen und apparativen Therapieoptionen, gleichzeitig wächst damit aber auch die Zahl von therapie- und verfahrenabhängigen Komplikationen, die eine eigene Mortalität und Letalität induzieren, ja eigene Entitäten oder Syndrome schaffen.

Ted Kolobow hat mit seinem Satz „There is no ARDS without a physician“ diesem Phänomen Ausdruck verliehen [Kolobow et al. 1987]. Das apparativ Mögliche entwickelte sich in der Beatmung weit schneller als die Erkenntnisse um die möglichen Folgen der mechanischen Beeinträchtigung des Organs Lunge durch atemzyklische (Über-)Dehnung und alveolären Kollaps. Bis in die Mitte der 90er-Jahre schien das Barotrauma die einzige Form einer beatmungs- und damit verfahrensbedingten Komplikation darzustellen; das Wissen und die Erkenntnis um den Ventilator assoziierten Lungenschaden, VILI (ventilator induced lung injury) und damit um die Outcome relevante Bedeutung der mechanischen Belastung der Lunge durch die Beatmung selbst entwickelte sich erst in den späten 90er-Jahren, diese Entwicklung hält bis heute an.

Nach der Entwicklung der ersten Penicilline entstanden durch deren breiten Einsatz Resistenzen, wobei die nachfolgende Entwicklung von Breitbandantibiotika dieses Problem zunächst zu lösen schien. Heute befindet sich die Intensivmedizin zumindest im Hinblick auf einige Erreger und deren Resistenzpotential auf dem Weg zurück in die präantibiotische Ära. Der Rückzug auf die Hoffnung nach der Entwicklung des nächsten, neuen Antibiotikums ist längst einem pragmatischen Umgang zur Verbesserung der Wirksamkeit verfügbarer Präparate und zur Reduktion der Resistenzentwicklung gewichen. Frühe Intervention, kurze Behandlungszyklen, pharmakodynamisch optimierte Applikationsformen und – wenn indiziert – kurzfristige Kombinationstherapie um nur einige zu nennen stellen strategische Schritte dar um diesem Problem der „bad bugs, no drugs“ zu begegnen.

In den letzten Jahren sind zunehmend Aspekte der Lebensqualität nach Intensivtherapie in den Fokus des Interesses gerückt. Primär generiert Intensivmedizin ihre Bedeutung aus dem Eröffnen einer Chance zum Überleben durch Aufrechterhalten und Sicherstellen der körperlichen Funktionen, die zwingend erforderlich sind, um in ein „normales“ Leben zurückkehren zu können. Zunehmende Erkenntnis ist aber, dass diese Sichtweise viel zu kurz greift, da während eines Intensivaufenthaltes häufig körperliche und psychomentale Defizite erworben werden die langfristig, häufig sogar lebenslang persistieren. Eine Vielzahl von Studien belegt, dass diese Defizite in der Summe so schwerwiegend sein können, dass sie eine Rückkehr in ein normales Leben oder Berufsleben schwierig, wenn nicht unmöglich machen [Iwashina et al. 2010; Cuthbertson et al. 2010; Herridge et al. 2011]. Damit steht die moderne Intensivmedizin vor einer neuen Herausforderung, namentlich der Antwort auf die Frage nach dem „Preis“ den ein Patient für sein Überleben zahlt oder, um es als neue Aufgabe und Verpflichtung für die Intensivmedizin zu formulieren welchen „Preis“ er zahlen muss.

Offene Intensivstationen mit freiem Zugang für Angehörige, frühe, intensivierte Physio- und Ergotherapie, psychologische Unterstützung für Patienten und deren Familie, häufiger und strukturierter Kontakt zwischen dem Behandlungsteam und den Betroffenen um nur einige Ansätze zu nennen, werden in Zukunft mit darüber entscheiden wie hoch der Preis ist, den ein Individuum für sein Überleben zahlt. Das Primat „die Entwöhnung von der Beatmung beginnt mit der Intubation“ wird auf die gesamte Intensivmedizin übertragen zukünftig lauten und lauten müssen „die Rehabilitation eines Patienten beginnt mit seiner Aufnahme auf die Intensivstation“. Intensivmedizin wird ihre Qualität daran messen lassen müssen wie gut sie einerseits Menschen, für die keine Aussicht auf ein Überleben mit Lebensqualität mehr besteht und Ihre Angehörigen auf ihrem letzten Weg begleitet und andererseits wie erfolgreich sie darin ist, den Preis für das Überleben so gering zu halten, dass ein selbst bestimmtes Leben mit geringstmöglichen Beeinträchtigungen möglich wird.

Praxisbuch Ethik in der Intensivmedizin

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