Читать книгу Praxisbuch Ethik in der Intensivmedizin - Группа авторов - Страница 40
4.1 Ethische Problemstellungen in der Intensivmedizin
ОглавлениеIntensivmedizin steht im Spannungsfeld zwischen dem medizinisch Machbaren und dem Sinnvollen. Prognostische Unsicherheiten und ethische Fragen zu Einsatz, Fortführung oder Beendigung therapeutischer Maßnahmen bei Schwerstkranken und Sterbenden bestehen auch in anderen medizinischen Fachgebieten; in der Intensivmedizin und -pflege treten diese aber mit besonderer Dringlichkeit auf.
Folgende Themenbereiche stecken – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – den Rahmen ab, in dem ethische Unterstützung benötigt wird:
Respekt vor dem Patientenwillen: Patientinnen und Patienten einer Intensivstation können meist nur eingeschränkt oder gar nicht in Maßnahmen einwilligen. Daher kann sich die ethische Orientierung nur selten auf einen aktuell geäußerten Patientenwillen stützen. Das Bemühen um das Wohl des Patienten und um die Einschätzung dessen, was dieser wohl wünschen würde (mutmaßlicher Patientenwille), tritt in den Vordergrund. Dabei können Angehörige eine wichtige Rolle spielen; sie können aber auch überfordert oder von ihren eigenen Bedürfnissen beeinflusst sein.
Entscheiden unter Zeitdruck: Weitere Herausforderungen in der Intensivmedizin entstehen durch die hochtechnisierte Behandlung, hohe Anforderungen an Präzision und Teamarbeit sowie die Notwendigkeit schneller Entscheidungen. Das führt dazu, dass auch ethische Fragen oft nicht aufschiebbar sind (oder scheinen) und rasche Lösungen erfordern. Allerdings werden Gelegenheiten zur rechtzeitigen Vorausplanung von allen oft unzureichend wahrgenommen, was den Zeitdruck bei Entscheidungen und in der Folge ggf. auch ethische Konflikte verstärkt. Während medizinische Aspekte meist strukturiert und effizient in die Entscheidungsfindung eingebracht werden, sehen wir bei ethischen Fragestellungen oft ein weniger systematisches und effizientes Vorgehen. Wie diese Lücke durch Strukturierung gefüllt werden könnte, zeigen wir weiter unten.
Übertherapie oder Futility: In der Intensivmedizin gehören Entscheidungen über das Fortführen, Limitieren oder Beenden von lebenserhaltenden Maßnahmen zu den Kernaufgaben und sind Teil des klinischen Alltags. Häufig scheint es schwieriger zu sein, die Entscheidung zu treffen, eine (potenziell lebenserhaltende) Maßnahme zu unterlassen, einzuschränken oder abzubrechen, als diese zu beginnen. Diese Schwierigkeiten haben ethische, psychologische sowie kommunikative Aspekte [Michalsen et al. 2021).
Kommunikation: In der Intensivmedizin, wo „es um Leben und Tod“ geht, hat die Kommunikation – der adäquate Austausch von Informationen und Überlegungen – möglicherweise eine noch größere Bedeutung als in anderen Bereichen der Patientenversorgung. Die Qualität der Kommunikation hat ihrerseits eine ethische Dimension; somit sind kommunikative und ethische Aspekte häufig verbunden und keinesfalls gegeneinander auszuspielen. Ethische Unterstützung kann mithelfen, auch kommunikative Fragen zu klären, Missverständnisse auszuräumen oder zu verhüten.
Triage: Die Corona-Pandemie hat ein Problem ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht, das schon früher bestand: Schon vor Corona war die Anzahl Betten einer Intensivstation begrenzt, und es gab Momente, in denen entschieden werden musste, wer das letzte freie Bett bekommt. Solche Entscheide können zu ethischen Problemen führen und sind belastend. Um die Mitarbeitenden vor Ort zu unterstützen und zu entlasten, wurden in vielen Ländern Leit- und Richtlinien erstellt mit Kriterien, nach denen Triage-Entscheide getroffen werden sollen. In Triage-Situationen kommt, „ergänzend zu der patientenzentrierten Betrachtung mit der Priorisierung bei Mittelknappheit, zusätzlich eine überindividuelle Perspektive hinzu“ [AWMF und DIVI 2020].