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4.3.2 Niederschwellige Bearbeitung ethischer Probleme – Illustration anhand eines Fallbeispiels

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Wie lassen sich ethische Probleme im Alltag mit METAP bearbeiten? Das soll im Folgenden anhand eines realen Fallbeispiels demonstriert werden.

Ausgangslage

Herr Schmitz wird seit dem 2. Januar 2019 auf der IMC-Station (Intermediate Care) behandelt. Er war vorher per FU (Fürsorgerische Unterbringung) wegen akuter Suizidalität in einer psychiatrischen Klinik hospitalisiert. Der Patient hatte gesagt, er könne sich vorstellen, sich zu erschießen, Rattengift zu nehmen oder sich von der Treppe zu stürzen. Nach der Aufnahme gab der Patient an, dies sei alles nur ‚so dahergeredet‘ gewesen.

Am 1. Januar 2020 erfolgt die Überweisung ins Akutspital bei akutem Harnverhalt. Er wurde dort schon seit 2016 wegen Urin-Abflussproblemen bei fortgeschrittenem Prostatakarzinom behandelt. Nach Einlage eines Blasenkatheters entleert sich 100 ml trüber Urin. Es erfolgt eine weitere Diagnostik (der Patient klagt über diffuse Bauchschmerzen), die Hinweise für einen mechanischen Dünndarmileus ergibt. Bei computertomographischem Verdacht auf ein Lipom in der Pyloruswand mit konsekutiver Magenausgangsobstruktion erfolgt eine Gastroskopie. Erst nach zwei Versuchen gelingt es, eine Triluminalsonde einzulegen, um mit einer Ernährung per Sondenkost beginnen zu können. Eine gleichzeitig entnommene Biopsie zeigt nur Schleimhaut bei makroskopischem Eindruck eines Lipoms.

Einige Einträge aus der elektronischen Krankengeschichte:

3. Januar: Patient kurzzeitig nicht fixiert, entfernt sich die Triluminalsonde.

4. Januar: Patient schreit pausenlos trotz Reservemedikation

5. Januar: Einlage einer Duodenalsonde gelingt.

6. Januar: GCS 14, nachts deutlich ruhiger. Verweigert allerdings das Klingeln, weil es schneller geht, wenn er laut ruft.

7. Januar: Patient am Morgen agitiert, glaubt von der Pflegekraft umgebracht zu werden. Erst nach wiederholter Erklärung kann der Patient beruhigt werden.

8. Januar: Duodenalsonde wieder durch Patienten gezogen. Beginn mit totaler parenteraler Ernährung, zunächst peripher bei hohem Risiko der ZVK Entfernung durch den Patienten.

Stufe 1: Um ein Problem angehen und wenn nötig mit einer Kollegin besprechen zu können, muss zuerst Klarheit darüber erlangt werden, worin genau das Problem besteht. Das geschieht zuerst mit Hilfe der Fragen, die in der Tabelle „Identifikation des ethischen Problems“ zusammengestellt sind. Diese Fragen, die unter anderem nach den vier medizinethischen Prinzipien geordnet sind, helfen, das Problem patientenzentriert einzugrenzen. Möglicherweise klärt sich die Situation schon auf einfache Weise, wenn die richtigen Fragen an die richtige Person gerichtet werden.

Der Assistenzarzt, der Herrn Schmitz zum ersten Mal betreut, liest sich in die Krankengeschichte ein. Er empfindet die Situation als unbefriedigend und fragt sich, welche Behandlungsstrategie hier angemessen wäre. Er konsultiert die oben genannte Tabelle und listet danach folgende Fragen auf:

Was ist der Patientenwille? Wissen wir etwas darüber?

Wie kann der Patient ernährt werden, wenn er sich immer wieder die Ernährungssonde zieht?

Kommt ein operatives Vorgehen in Frage? Wie ist dabei das Verhältnis zwischen Gutes-Tun und Nicht-Schaden?

Stufe 2: Eine Problemstellung lässt sich sehr viel einfacher gemeinsam mit einer anderen Person analysieren, wenn sie vorher auf Stufe 1 verortet wurde und explizit formuliert werden kann. Für die gemeinsame Besprechung können auch hier verschiedene Hilfsmittel zur Anwendung kommen. Im gemeinsamen Gespräch wird wieder die Tabelle „Identifikation des ethischen Problems“ durchgegangen und geprüft, ob alle wichtigen Informationen vorliegen. Die „Checkliste zur Informationssammlung“ wurde genau dafür entwickelt. Zur Übersicht und auch zur Vorbereitung einer ethischen Fallbesprechung im Team (Stufe 3) werden die bereits erhobenen Informationen und Befunde in eine sogenannte Problemmatrix eingetragen. Die bessere Übersicht bringt zusätzliches Klärungspotenzial.

Der Assistenzarzt wendet sich an die Oberärztin, die mit ihm gemeinsam für Herrn Schmitz zuständig ist und legt ihr die Fragen vor, die er sich notiert hat. Diese hört aufmerksam zu und meint darauf, sie habe sich bereits ganz ähnliche Gedanken gemacht. Herr Schmitz sei aktuell delirant und nicht urteilsfähig. So könne man ihn nicht zu seinem Willen befragen. Leider habe man bis jetzt die einzige Angehörige, eine Nichte, nicht erreichen können. Sie wolle es aber gleich noch einmal versuchen.

Tatsächlich gelingt es noch am gleichen Tag, ein Telefongespräch mit der Nichte von Herrn Schmitz zu führen. Sie erzählt, dass er glücklich verheiratet war. Nach dem Tod seiner Frau vor 10 Jahren ging es bergab mit ihm. Vor einem Jahr habe er dann eine Freundin gefunden, mit der er aber nicht so gut harmonierte und die sich vor 3 Monaten wieder von ihm trennte. Diese Trennung habe ihn sehr belastet. Er sei immer schon sehr ablehnend in Bezug auf Ärzte und Krankenhausaufenthalte gewesen, habe sich teilweise selbst gegen Unterschrift entlassen. Für ihn bedeute Lebensqualität, mit dem Auto in den Schwarzwald zu fahren und dort gut essen zu können. Operationen habe er immer vehement abgelehnt. Eine Patientenverfügung gebe es nicht.

Der Assistenzarzt, die Oberärztin und die an diesem Tag zuständige Pflegefachperson treffen sich daraufhin. Alle drei sind der gleichen Meinung. Es sollte baldmöglichst eine ethische Fallbesprechung im Behandlungsteam durchgeführt werden.

Stufe 3: Immer wieder ergeben sich bei der Behandlung und Betreuung kranker Menschen Situationen, in denen Expertise und Wissen mehrerer Fachpersonen erforderlich und ein Blick aus verschiedenen Perspektiven unerlässlich sind. Dies kann eine strukturierte ethische Fallbesprechung leisten, bei der Informationen ausgetauscht werden, der Patientenwille geprüft und mit der Prognose der Erkrankung verglichen werden kann. In unserem Fallbeispiel müssten die Teilnehmenden unter anderem überlegen, wie Herr Schmitz so behandelt werden kann, dass sein Wille berücksichtigt wird, aber gleichzeitig die Prinzipien Gutes-Tun und Nicht-Schaden im Blick bleiben.

Der Ablauf einer ethischen Fallbesprechung nach METAP wurde so konzipiert, dass eine Situation zeitnah und konzentriert besprochen und ein Lösungsweg gefunden werden kann, der anschließend mit dem Patienten oder bei Urteilsunfähigkeit mit dessen Angehörigen besprochen wird. Eine solche ethische Fallbesprechung läuft inhaltlich und prozedural geordnet ab und wird dokumentiert. Den genauen Ablauf einer solchen ethischen Fallbesprechung haben wir im Detail beschrieben (METAP Website – s. oben).

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