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7.4 Der ökonomisierte Mensch
ОглавлениеEhe sich mit Erweiterung des Blickwinkels von der empirisch-naturwissenschaftlichen Sicht die psychosozialen und ethischen Aspekte im klinischen Alltag positiv auswirken konnten, drängten sich finanzielle Fragestellungen in den Vordergrund. Sie dominieren derzeit nahezu alle Überlegungen im Gesundheitswesen, so dass auch das Menschenbild in den Sog der Ökonomie gerät [Nagel 2007; Oberender 2007]. Der Patient als Kunde, Kliniken als Leistungsanbieter auf dem Gesundheitsmarkt oder Mitarbeiter als Humankapital – diese Schlagworte machen deutlich, wie wirtschaftliche Maßstäbe Planungen und Entscheidungen prägen. Kliniken werden zu Unternehmen, die sich mehr um Kundenfang und -bindung bemühen als um den hilfebedürftigen Kranken. Private Träger sehen sich außerdem noch in der Pflicht, Rendite für ihre Aktionäre zu erwirtschaften. Die Versuchung ist groß, diese Gewinne durch Einschnitte zulasten der Patienten und des Personals zu steigern.
Patient und Krankheit werden zum Produktionsfaktor, der möglichst viel Gewinn bringen soll. Dagegen wird das Personal zum belastenden Kostenfaktor, den man durch Minderung der Anzahl oder Absenken der Qualifizierung optimieren will [Imdahl 2012]. Schon die Wortwahl ist Ausdruck eines einseitigen Denkens und beeinflusst das Denken anderer. Wenn z. B. in einer Klinik „profitcenter“ und „costcenter“ identifiziert und in Klinikkonferenzen benannt werden, um zu finanziell effektiverem Arbeiten zu motivieren, beeinflusst das die Atmosphäre in der Einrichtung.
Wie wir den Menschen sehen, so gehen wir mit ihm um.
Der Umgang mit dem Gegenüber, sei es Patient, Angehöriger oder Mitarbeiter, und Entscheidungen über Art und Umfang von Diagnostik und Therapie werden dadurch beeinflusst, bewusst oder unbewusst.
Ein belastender Kostenfaktor kann kaum wertgeschätzt werden oder sich angenommen fühlen. Oder verleitet die Möglichkeit, ab 1.000 Beatmungsstunden einen höheren Erlös zu erzielen, nicht, einen Langzeitbeatmeten Intensivpatienten noch einen Tag länger zu beatmen, um diese Stufe zu überschreiten, auch wenn er aus allen anderen Gründen schon nach 980 Stunden ohne Beatmung auskäme? Auch pharmazeutische und medizintechnische Unternehmen nutzen das beherrschende ökonomische Denken für ihre Interessen. Neue Medikamente oder Therapieoptionen werden damit beworben, dass sie trotz Investitionen Kosten sparen, durch geringeren Personalbedarf, verkürzte Therapiezeiten oder verminderte Folgekosten [Salomon 2010].
Der ökonomische Ansatz ist ethisch nur zu befürworten, wenn das Ziel der bedürftige Mensch ist, Ökonomie also Werkzeug bleibt.
Der verantwortliche Umgang mit Ressourcen hat selbst moralische Dimensionen, weil so mehr Menschen geholfen oder das Ziel mit weniger Mitteln erreicht werden kann. Ökonomisches Denken ist auch ethisch unverzichtbar, doch viele Einsparmodelle erwecken den Eindruck, dass Ökonomie Selbstzweck und Leitgedanke ist. Wenn Patient und Personal vorrangig unter Kostengesichtspunkten betrachtet werden, kommt es zu einem ökonomischen Reduktionismus des Menschenbildes (s. Tab. 3). Warnsignal sind Abwanderung von Medizinstudenten und Ärzten in andere Berufsfelder oder Länder und der hohe Ausfall ärztlichen und pflegerischen Personals durch Krankheit, Sucht und Burn-out sowie das ärztliche Suizidrisiko [Bergner 2010].
Tab. 3 Vor- und Nachteile eines ökonomischen Menschenbildes für die Intensivmedizin
Positive Konsequenzen/Vorteile | Negative Konsequenzen/Gefahren |
Kosten im Blick | Ausgrenzung/Verlegung kritisch kranker Patienten |
Bedarfs-/Kundenorientierung | Fürsorgegedanke tritt in den Hintergrund |
Bemühen um effiziente Strukturen und Abläufe | Vernachlässigung persönlich zugewandter Medizin und Pflege |
Arbeitserleichterung durch moderne apparative Ausstattung und Umbauten | Reduktion von Personalzahl und Qualifikation |