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6.4 Würde als Reflexionsbegriff und Grundform moralischer Kultur
ОглавлениеTeresa Steins berichtet auch ein positives Beispiel, das verdeutlicht, was dies bedeutet und wie es anders gehen könnte:
„Der Pfleger ist unentwegt beschäftigt, kontrolliert die Apparate, stöpselt oder drückt Schalter und Knöpfe, macht Eintragungen, schaut wieder, zieht eine Spritze auf. Er macht seine Arbeit sicher sehr gewissenhaft. Ich versuche, ihm nicht im Wege zu stehen, trete zurück. Da schaut er mich an: ‚Ich heiße Ingo und betreue heute Ihren Mann. Es ist ja der erste Beatmungstag, sprechen Sie mit ihm. Ich erzähle ihm auch, was ich so mit ihm machen muß. Einiges erzähle ich ihm‘, berichtigt er sich und schaut mich freundlich an. Das war an diesem Pfingstmorgen ein großer Hoffnungsschimmer, den ich mit in den Tag nehmen wollte …“ [Steins 2000: 22]
Gegen dieses Verhalten könnte man – einer gängigen Auffassung gemäß – einwenden, dass das Reden mit dem Mann wenig Sinn hat, solange er im (künstlichen) Koma liegt, weil er sowieso nichts versteht, ja, dass überhaupt von Achtung der Person und ihrer Würde nur dann sinnvoll die Rede sein kann, wenn der Patient zumindest über ein Minimum an Bewusstsein verfügt, um diese Achtung auch selbst erleben zu können. Die Zuschreibung des moralischen Status der Person wird damit von bestimmten mentalen Fähigkeiten abhängig gemacht. Das ist eine weit verbreitete Position in der Bioethik, aus der die viel diskutierte und praktisch unlösbare Frage resultiert, inwieweit diese Fähigkeiten vorhanden sein müssen, wo genau die Grenze zu ziehen ist. Gerade in Situationen der Schwäche und Hilflosigkeit ist die Gefahr der Missachtung der Würde besonders groß. Die moralische Bedeutung des Personenbegriffs und der Menschenwürde wird grundsätzlich missverstanden, wenn man meint, dass sich der Umgang mit einem Menschen in ethischer Hinsicht radikal ändert, wenn er (dauerhaft oder irreversibel) nicht mehr bei Bewusstsein ist, dass er dann nicht mehr als Person, sondern nur noch als Ding oder Sache zu behandeln wäre. Ethische Grundbegriffe sind nicht dazu da, Menschen in verschiedene Kategorien einzuteilen. Als „Reflexionsbegriffe“ dienen sie vielmehr dazu, das menschliche Selbstverständnis und die gemeinsam geteilte Form menschlicher Praxis und moralischer Kultur, die als notwendige Bedingung eines gemeinsamen guten Lebens zu begreifen ist, angesichts konkreter Problemlagen kritisch zu reflektieren [Rehbock 2005 a, Kap. IX].
Zur moralischen Kultur der Würde gehört ganz grundlegend die wechselseitige Erwartung von Menschen aneinander, auch in der Situation der Bewusstlosigkeit oder des Todes als Person, nicht als bloßes Objekt betrachtet und behandelt zu werden.
Was dies zum Beispiel für die Situation des Wachkomas oder des Hirntodes bedeutet, das lässt sich nicht einfach aus dem Begriff der Würde ableiten. Die konkreten Normen und Praktiken können je nach Situation ganz unterschiedlicher Art sein. Sie sind aber in demokratischen Diskursen unter dem Gesichtspunkt der Würde gemeinsam ethisch zu reflektieren und zu beurteilen.