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6.5 Plädoyer für die Würde des (Hirn-)Toten

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Was dieses Verständnis der Würde für Grenzsituationen am Ende des Lebens in der Intensivmedizin bedeutet, möchte ich kurz am Beispiel der besonders umstrittenen Thematik der Organtransplantation erläutern. Ich skizziere eine Position, welche die vollständige Gleichsetzung des Hirntodes mit dem Tod des Menschen verneint, die Organtransplantation unter gewissen strengen Bedingungen aber als mit der Achtung menschlicher Würde vereinbar betrachtet.

Durch den Fortschritt medizinischer Techniken der Lebensverlängerung wurde ein neuartiger Zustand des Menschen zwischen Leben und Tod erzeugt, der nur unter intensivmedizinischen Bedingungen möglich ist, der Zustand des „Hirntodes“. Während sämtliche Funktionen des Gehirns irreversibel ausgefallen sind, wird der Organismus mittels künstlicher Beatmung „am Leben erhalten“. Mit Blick auf das Interesse, dem hirntoten Patienten für die Transplantation besonders gut geeignete, weil noch intakte Organe entnehmen zu können, stellte sich die Frage, ob der Mensch in diesem Zustand noch lebt oder bereits gestorben, also tot ist. Der vollständige Hirntod wurde mittlerweile in fast allen Ländern als zusätzliches und für sich genommen hinreichendes Todeskriterium medizinisch und rechtlich anerkannt. Die philosophisch-ethische und öffentliche Auseinandersetzung über diese Frage ist jedoch bis heute nicht zur Ruhe gekommen. In der Praxis sind betroffene Angehörige immer wieder schwer davon zu überzeugen, dass der noch atmende (beatmete) Patient, der lebendig aussieht und sich von bewusstlosen lebenden Patienten nicht erkennbar unterscheidet, tatsächlich tot sein soll. Für Ärzte und besonders Pflegende ist es eine besondere Herausforderung, (hirn-)tote Patienten bis zur Explantation zu behandeln und zu pflegen wie Lebende, damit deren Organe möglichst intakt bleiben [vgl. Striebel/Link 1991; Kalitzkus 2009]. Dass eine (hirn-)tote Frau in der Lage sein soll, über mehrere Wochen und Monate ein Kind in sich heranwachsen zu lassen und zur Welt zu bringen, ist schwer zu begreifen. Auch gibt es mittlerweile neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse, welche die einzigartige Bedeutung des Gehirns für den Organismus zumindest relativieren [vgl. Müller 2010; Stoecker 2010]. Vor allem aber stellt sich die Frage, was in ethischer und rechtlicher Hinsicht von dieser Frage tatsächlich abhängt. Was ändert sich mit dem Übergang vom Leben zum Tod?

Einen toten Menschen kann man nicht mehr töten. Man kann also auch nicht seine Würde verletzen, indem man sein Lebensrecht missachtet. Oft wird aber dieser Übergang so verstanden, als wenn der Verstorbene gar kein Subjekt oder Träger der Würde und grundlegender Rechte und damit in diesem Sinne keine Person, sondern nur noch eine Sache sei, über die bzw. über deren Leichnam man frei zum Zwecke und Nutzen anderer Menschen verfügen könne [vgl. Birnbacher 2000]. Faktisch trifft dies allerdings nicht zu. Rechtlich wird der Leichnam zwar als Sache, aber als Sache extra commercium betrachtet, mit der man zum Beispiel keinen Handel treiben darf und der gegenüber bestimmte Formen pietätvollen Verhaltens verlangt werden. Außerdem werden dem Verstorbenen „postmortale Persönlichkeitsrechte“ zuerkannt, etwa das Recht, nicht verleumdet oder beleidigt zu werden, das von den Nachfahren stellvertretend auch rechtlich eingeklagt werden kann. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoller, die den moralischen Ansprüchen und Rechten zugrundeliegende Würde konsequent als „unantastbar“ und „unverlierbar“ zu betrachten, indem man sie auch Verstorbenen gleichermaßen, wenn auch nicht in gleicher Weise zuerkennt. Dass die Würde zu achten ist, gilt demnach unbedingt, in jeder erdenklichen Lebenslage und auch gegenüber dem Verstorbenen. Nur wie sie zu achten ist, ändert sich je nach (Art der) Situation. Wenngleich man Verstorbene nicht töten oder ihnen Schmerzen zufügen kann, so ist es doch zum Beispiel möglich, ihre Würde zu verletzen und ihnen Unrecht zu tun, indem man ihren „letzten Willen“ missachtet, Unwahrheiten über sie verbreitet, die Ursachen ihres gewaltsamen Todes nicht aufklärt, sich ihrer nicht erinnert oder sie bzw. ihren Leichnam auf ein bloßes Objekt und Mittel für die Zwecke anderer Menschen reduziert. Auch der Verstorbene bleibt auf diese Weise als moralisches Gegenüber menschlichen Denkens und Handelns gegenwärtig.

Um zu verstehen, was es gegenüber dem hirntoten Menschen auf der Intensivstation bedeutet, seine Würde zu achten, ist die Besonderheit dieser speziellen Situation – gewissermaßen zwischen Leben und Tod – in ethischer Hinsicht genauer zu betrachten. Diese Situation zeichnet sich aus durch ihre besondere Todesnähe, ist aber auf Grund der noch verbliebenen sichtbaren Lebenszeichen nicht mit dem Zustand eines langsam verwesenden Leichnams gleichzusetzen. Es handelt sich eher um ein künstlich angehaltenes Sterben. In diesem Zustand ist primär eine Beendigung der eindeutig sinnlos gewordenen lebenserhaltenden Maßnahmen im Interesse des Sterbenden und der Achtung seiner Würde gemäß. Umso mehr bedarf es seiner ausdrücklichen Zustimmung, wenn diese Maßnahmen zum Zweck der Organexplantation fortgeführt werden, so dass er nicht auf dem Wege des Sterbenlassens, sondern als Folge der Explantation stirbt. Auf Grund der untrennbaren inneren Beziehung der Person zu ihrem Leib erfordert – mehr noch als im Falle des Umgangs mit dem Leichnam in Form von Sektionen, Leichenversuchen oder Ganzkörperplastinaten – die Achtung der Würde des Organspenders, dass er selbst über diese Spende auf Grund zureichender Aufklärung selbst verfügen konnte, dass also sein Wille respektiert wird. Rechtlich wäre aus dieser Sicht allein die „enge Zustimmungslösung“ vertretbar, wonach das Vorliegen einer schriftlichen Zustimmung durch den Betreffenden selbst, ähnlich wie im Fall der Patientenverfügung, zwingend erforderlich ist. Außerdem erfordert die Achtung der Würde des Organspenders konkrete Formen des respektvollen Umgangs mit ihm und die Ermöglichung ritueller Formen der Trauer und des Abschieds für die Überlebenden, das heißt eine Kultur des Umgangs mit Sterben und Tod, die gerade in Kliniken und auf Intensivstationen oft zu vermissen ist.

Praxisbuch Ethik in der Intensivmedizin

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