Читать книгу Praxisbuch Ethik in der Intensivmedizin - Группа авторов - Страница 62
7.2 Die naturwissenschaftliche Sicht
ОглавлениеIntensivmedizin ist ein Symbol unserer Zeit für den Kampf gegen Krankheit und Tod. Sie entstand Mitte des 20. Jahrhunderts aus einer stark naturwissenschaftlich orientierten Medizin. Es ging primär darum, die Erfolge großer Operationen dadurch zu sichern, dass postoperative Organdysfunktionen und Homöostasestörungen verhindert oder überwunden werden sollten [Lawin 1998]. Die wachsenden Kenntnisse in der Medizin führten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu vielen manuellen, technischen und medikamentösen Entwicklungen. Intensivmedizin entwickelte sich in diesem System logisch konsequent als organ- und körperbezogene Disziplin. Ihre Erfolge lagen im naturwissenschaftlich orientierten Umgang mit dem Körper, in der Konzentration auf Teilfunktionen und der Abstraktion vom komplexen Ganzen menschlichen Seins.
Dieser Zugangsweg zum kranken Menschen gründet in einem Menschenbild, das wesentlich von René Descartes (1596–1650) geprägt ist. Sein dualistischer Denkansatz, in dem der Geist den Menschen zum Ich macht (cogito, ergo sum) und der Körper ein materielles Ding ist, entsakralisierte und enttabuisierte den menschlichen Körper. Diese Sicht hat es ermöglicht, sich dem Körper analytisch zuzuwenden, ohne den Menschen in seinem Wesen zu entheiligen. Wenn wir „den menschlichen Körper als eine Art Maschine ansehen, die aus Knochen, Nerven, Muskeln, Adern, Blut und Haut zusammengepasst ist“ und er verglichen wird mit einer „Uhr, die aus Rädern und Gewichten besteht“ [Descartes 1642: 104], ist ein Krankheitsverständnis vorgezeichnet, in dem Krankheit als Funktionsstörung oder Ausfall einzelner Teile und Therapie als Reparatur oder Austausch defekter Teile begriffen wird. Die materialistische Sicht erreichte einen Gipfel gut 200 Jahre später, als sich das mechanisch-naturgesetzliche Denken durchsetzte und die empirische Forschung in der Medizin als alleiniger Zugangsweg zum Menschen für die Medizin propagiert wurde, weil „im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind als die gemeinen physikalisch-chemischen“ [Du Bois-Reymond 1842, zitiert bei Uexküll 2002]. Damit bahnte sich das Risiko an, den Menschen auch in seinem Wesen auf physikalisch-chemische Prozesse zu reduzieren und ihn nur als Objekt technischen Handelns zu betrachten. Manche Thesen der modernen Neurowissenschaften bewegen sich in diese Richtung und stellen dabei auch den freien Willen des Menschen in Frage. Ärztinnen und Ärzte entwickelten sich dementsprechend zu naturwissenschaftlich-technischen Experten. Philosophische, religiöse, psychosoziale und moralische Dimensionen traten für lange Zeit in den Hintergrund.
Der dualistische Denkansatz Descartes hat durch Säkularisierung und Versachlichung des Körpers sowie der daraus folgenden empirisch-analytischen Betrachtung den Kenntnis- und Handlungszuwachs in der Medizin bewirkt und ist auch Wegbereiter der Intensivmedizin.
Die Erfolge schienen Beweis genug für die Richtigkeit des mechanistisch-naturwissenschaftlichen Menschenbildes mit seinem Ursache-Wirkungs-Prinzip. Die Faszination dieses Ansatzes bescherte Ärzten die erste Stufe in Berufsprestigeskalen [Institut für Demoskopie Allensbach 2013; Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung 2020], brachte Gelder ins Gesundheitswesen und führte allerorten zur Einrichtung von Intensivstationen, birgt aber auch Gefahren (s. Tab. 2). Die COVID-19-Pandemie brachte 2020 einen zusätzlichen Schub in der Anerkennung der medizinischen Berufe, insbesondere im Bereich der Intensivmedizin. Hier kam jedoch neben der technischen Leistungsfähigkeit auch der Aspekt der Belastung durch die Konfrontation mit dem menschlichen Leid hinzu.
Tab. 2 Vor- und Nachteile des empirisch-naturwissenschaftlichen Menschenbildes für die Intensivmedizin
Positive Konsequenzen/Vorteile | Negative Konsequenzen/Gefahren |
Entmythisierung des Körpers und seiner Funktionen | Vernachlässigung psychosozialer Aspekte |
Differenzierte Diagnostik und Therapie von Organfunktionen | Vernachlässigung von autonomen Willensäußerungen |
Apparative Unterstützung und Ersatz von Körperfunktionen | Mechanisierung und Technisierung des Körpers bis hin zum Transhumanismus |
Überwindung lebensbedrohlicher Zustände, wodurch die körperlichen Voraussetzungen für ein ganzheitliches Leben erhalten werden. | Vernachlässigung einer integrierten Sicht von Körper, Psyche und Geist |
Maximaltherapie mit Einsatz aller verfügbaren Mittel | Kosten treten in den Hintergrund |
Engagierte Forschung und Suche nach Problemlösungen | Vernachlässigung ethischer Grenzen |