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6.1 Was ist Menschenwürde?

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Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst der Begriff der Menschenwürde zu klären. Als Grundbegriff von Recht und Moral hat sie ihren Ursprung im „elitären Adels- und Bürgerethos der altgriechischen Polis“ [Forschner 1998: 92] und des römischen Staates sowie in der christlich-theologischen Idee der Gottesebenbildlichkeit, die zunächst Königen als irdischen Stellvertretern Gottes vorbehalten war [Kruhöffer 1999: 24; Pannenberg 1991: 233]. Die Zuschreibung der Würde (dignitas) war also ursprünglich an bestimmte Eigenschaften wie adelige Abstammung, Bekleidung hoher öffentlicher Ämter, herausragende politische Leistungen oder moralische Integrität gebunden. Noch heute verwenden wir den Begriff der Würde in dieser Weise, wenn wir bestimmte Verhaltensweisen oder Situationen als „unwürdig“ oder „würdelos“ beschreiben. Die Zuschreibung der Würde wird damit von bestimmten Bedingungen abhängig gemacht, mit deren Verlust auch die Würde verlorengeht.

Schon in der Antike und in der christlichen Theologie aber wurde die Würde auf den Menschen im Allgemeinen übertragen und als ein moralischer Status betrachtet, der dem Menschen als Mensch und somit jedem Menschen zukommt, unabhängig von Herkunft, Amt oder Leistung.

Für die antike, vor allem stoische Ethik beinhaltet dieser Status in erster Linie die moralische Verpflichtung des Menschen sich selbst gegenüber, ein der Vernunft gemäßes, moralisch gutes Leben zu führen. Wer in diesem Sinne über Würde verfügt, der ist sich seiner eigenen Würde bewusst, er achtet sich selbst und ist bestrebt, so zu leben und sich so zu verhalten, dass er dem damit verbundenen Anspruch gerecht wird [vgl. Baranzke 2010]. So verstanden kann der Mensch seine eigene Würde auch missachten und verlieren. Dieser Sinn des Würdebegriffs findet sich bei Kant in Form von „Pflichten gegen sich selbst“ [Kant 1990: 51–90] und ist uns auch heute noch vertraut, wenn wir zum Beispiel sagen, etwas sei unter unserer Würde, wir seien uns selbst etwas schuldig und uns selbst gegenüber zu etwas verpflichtet.

Im Laufe der Geschichte – vor allem aber im Zuge der „großen demokratischen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Amerika und Frankreich“ [Bielefeldt 1998: 25] – wurde der Begriff der Menschenwürde mehr und mehr auch zur Grundlage einklagbarer, grundlegender Rechte und politischer Forderungen, wie der Abschaffung von Sklaverei, Folter, Rassendiskriminierung usw. Die massiven Unrechtserfahrungen des 20. Jahrhunderts (Nationalsozialismus, Stalinismus, totalitäre Staaten), wozu besonders auch der Missbrauch der Medizin in Form von Menschenversuchen oder Massentötungen gehört, führten schließlich dazu, dass die Menschenwürde Eingang in viele politische Verfassungen, Menschenrechtserklärungen und speziell auch berufsethische Kodizes der Gesundheitsberufe fand [Bielefeldt 1998; Tiedemann 2007; Rabe 2009, Kap. 1.1.2]. Verfassungsrechtlich gilt die Menschenwürde als Grundlage der Menschenrechte bzw. der staatsbürgerlichen Grundrechte, dazu gehören zum Beispiel das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Selbstbestimmung und freie Entfaltung der Persönlichkeit oder das Recht auf Freiheit der Forschung [vgl. Bielefeldt 2008].

Im Sinne der ethischen und rechtlichen Bedeutung des Begriffs Würde sind nicht bestimmte Zustände oder Situationen – etwa der Krankheit, Gebrechlichkeit, Behinderung oder Hilfsbedürftigkeit – als solche menschenunwürdig. Zu einer Verletzung oder Missachtung der Würde des Menschen kommt es vielmehr nur durch menschliches Handeln, und zwar auch nur dann, wenn das Handeln bestimmte Normen verletzt oder missachtet.

So verletzt beispielsweise eine Operation nur dann das Recht auf körperliche Unversehrtheit und damit die Würde, wenn sie nicht dem Überleben bzw. dem Wohl des Patienten dient und ohne seine Zustimmung erfolgt. Sind dagegen diese beiden Voraussetzungen gegeben, dann ist im Gegenteil sogar das Unterlassen der Operation eine die Würde verletzende „unterlassene Hilfeleistung“. Das gilt in gleicher Weise für intensivmedizinische Maßnahmen. Es ist also genauer zu präzisieren, unter welchen Bedingungen und in welcher Weise es hier zu einer Verletzung oder Missachtung der Würde des Menschen kommen kann. Dabei ist zu beachten, dass sich die Würde in den moralischen Prinzipien wie Autonomie, Fürsorge oder Gerechtigkeit konkretisiert und ausdifferenziert. Es handelt sich hierbei nicht um getrennte, voneinander unabhängige Normen, sondern um verschiedene, einander bedingende und ergänzende Aspekte oder Momente der Würde des Menschen als Person. Für eine Moralphilosophie, welche die Würde ins Zentrum stellt, geht es daher nicht lediglich um quasi-technische Normen als Mittel zur Herbeiführung bestimmter Zwecke oder Folgen, wie etwa der Utilitarismus meint. Das bedeutet zum Beispiel, dass medizinische Maßnahmen, auch wenn sie für das Überleben und das Wohl des Patienten noch so notwendig erscheinen mögen, auf unzulässige Weise paternalistisch sind, wenn sie gegen dessen ausdrücklichen Willen erfolgen. Die Achtung der Autonomie und die Fürsorge für das Wohl des Anderen bedingen und begrenzen sich gegenseitig [vgl. Rehbock 2005 a, Kap. X]. Nur in Ausnahmefällen geraten diese beiden Prinzipien miteinander in Konflikt, wenn etwa ein Patient etwas will oder nicht will, was ihm offensichtlich schadet bzw. für sein Überleben oder sein Wohl notwendig wäre. Doch auch in solchen Konfliktfällen ist immer der Patient als autonomes Subjekt seines eigenen Lebens – als „Zweck an sich selbst“, wie Kant sagt – im Auge zu behalten.


Auch begrenzt paternalistisches Handeln ist nur gerechtfertigt, wenn im Endeffekt aus guten Gründen damit zu rechnen ist, dass der Patient selbst diesem Handeln zumindest im Nachhinein zustimmen wird.

Praxisbuch Ethik in der Intensivmedizin

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