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6.3 Paradigmatische Erfahrungen der Missachtung der Menschenwürde
ОглавлениеMedizinethische Debatten über die Menschenwürde konzentrieren sich meist allzu sehr auf diese Ausnahmesituationen und deren rechtlich relevantes Konfliktpotential. Aufgrund dessen besteht die Tendenz, Verletzungen der Menschenwürde, die nicht so massiv sind, dass sie auch rechtlich sanktioniert werden können und müssen, gar nicht als solche wahrzunehmen. In der Alltagsrealität aller Gesundheitsberufe lassen sich vielfältigste, zum Teil sehr subtile Formen der Verletzung der Menschenwürde beobachten. Beispiele wären:
Missachtung individueller Wünsche, Bedürfnisse und Gewohnheiten des Patienten
mangelnde Aufklärung über Sinn, Art und mögliche Folgen medizinischer und pflegerischer Maßnahmen
künstliche Ernährung anstelle persönlicher Betreuung und Unterstützung beim Essen
Fixieren, Psychopharmaka und psychischer Druck bis hin zu psychischer Gewalt, um „schwierige Patienten“ ruhig zu stellen
unpersönliches, primär durch medizinische Fachterminologie geprägtes Sprechen über Patienten als Nummer oder Krankheitsfall usw.
Diese Beispiele zeigen auch, wie sehr nicht nur individuelles Handeln, sondern auch zum einen die Situation der Schwäche und Hilflosigkeit kranker Menschen und zum anderen die institutionellen Rahmenbedingungen Verletzungen der Würde mit bedingen und verstärken.
Gerade auf Intensivstationen, wo in besonderem Maße unter großem Zeitdruck folgenreiche medizinische Entscheidungen über Leben und Tod zu treffen sind, bedarf es auch einer aufmerksamen Reflexion der Alltagsrealität, geleitet von der Einsicht, dass es nicht nur darauf ankommt, Leben zu retten und die Gesundheit wiederherzustellen, sondern ebenso darauf, das Kranksein und unter Umständen das Sterben auf menschenwürdige Weise zu gestalten.
Um zu klären, was das genau heißt, ist die Orientierung an Ausnahmesituationen wenig geeignet. Man muss sich vielmehr an eindeutigen, paradigmatischen (mustergültigen) Situationen vor allem der Missachtung der Würde orientieren. Für die Ethik waren und sind es immer gerade die negativen Erfahrungen von Leiden, Unrecht und Missachtung, die zu philosophischer Besinnung auf die Grundvoraussetzungen von Recht und Moral nötigen. Der gemeinsame Kern dieser Erfahrungen besteht darin, dass Menschen so betrachtet und behandelt werden, als ob sie keine Menschen, sondern bloßes Objekt, Tier, Maschine oder Untermenschen wären [vgl. Margalit 1997: 114– 141]. Hier sind insbesondere Erfahrungsberichte aus der Sicht von Patienten und Angehörigen, aber auch von Pflegenden und Ärzten aufschlussreich. Ein für den Bereich der Intensivmedizin besonders charakteristisches Beispiel ist das folgende, es findet sich in dem Protokoll „50 Tage intensiv“, das Teresa Steins über die Zeit ihres 68-jährigen Ehemannes auf Intensivstation verfasste, der auf Grund von Kriegsverletzungen nur noch weniger als eine halbe Lunge besaß, mit Verdacht auf Lungenentzündung ins Krankenhaus kam und hier ins künstliche Koma versetzt wurde.
„Da gab es für mich eine seltsame Beobachtung: ein Arzt, der mehrfach in der Aufwachphase nachsah, er schaute eigentlich kaum meinem Mann ins Gesicht, was da für ein Mensch liege, er konzentrierte sich auf die Apparate, tippte, drückte, knipste, kontrollierte sorgfältig noch einmal, nickte den tickenden, piepsenden Maschinen zu. Mein Mann öffnete einen Spalt die weiß verkremten Augenlider. ‚Hallo‘, sagte er leise. Da zuckte der junge Arzt sichtbar zusammen. Das ‚Hallo‘ kam nicht aus der Maschine. Ein Mensch nahm nach vierzehn Tagen tiefer Bewusstlosigkeit […] Kontakt mit der Umwelt auf. ‚Hallo!‘ Er, der bemühte, erschrockene Arzt, nickte nun kurz meinem Mann zu, sagte seinen Namen, verschwand. Langes Warten.“ [Steins 2000: 27]
Es gibt in diesem Bericht zahlreiche ähnliche Situationen, auch mit dem Pflegepersonal, die verdeutlichen, wie der Patient gerade unter intensivmedizinischen Bedingungen in Gefahr gerät, in der Perspektive der Handelnden scheinbar zu einem bloßen Objekt medizinisch-technischer Objektivierungen und Hantierungen zu werden und als Person mit einem Anspruch auf Achtung seiner Würde aus dem Blick zu geraten. Deshalb bedarf es auch einer grundlegenden Analyse und Kritik der Bedingungen und Grenzen der naturwissenschaftlich-technischen Orientierung moderner Medizin [vgl. Rehbock 2005 a, Kap. V]. So sehr der Patient als Person zu begrenzten Zwecken medizinischer Diagnose und Therapie notwendigerweise ausgeblendet werden muss, so sehr ist er doch in ethischer Hinsicht und im täglichen Umgang als Person im Blick zu behalten und in seiner Würde zu achten.