Читать книгу Praxisbuch Ethik in der Intensivmedizin - Группа авторов - Страница 63
7.3 Erweiterter Blickwinkel
ОглавлениеAb den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde deutlich, dass durch Konzentration auf die Körperlichkeit wesentliche menschliche Dimensionen vernachlässigt werden, die für Patienten, Angehörige und das Personal nicht zu kurz kommen dürfen.
Diese Gedanken waren zwar schon Anfang des 20. Jahrhunderts in der biographischen Medizin, z. B. bei S. Freud, und der psychosomatischen Medizin, z. B. bei V. von Weizsäcker, formuliert worden, hatten jedoch in der Intensivmedizin zunächst noch kein Gehör gefunden. Doch Erfahrungsberichte und Studien belegten, dass Intensivmedizin alle Beteiligten psychisch extrem belastet und für Patienten und Angehörige eine psychosoziale Ausnahmesituation darstellt [Hannich 1987]. Dann tauchten Fragen nach Sinn und Grenzen auf, da die Überwindung lebensbedrohlicher Situationen nicht immer mit einem vom Patienten gewollten und für ihn und seine Angehörigen tragbaren Ergebnis endete. Schwere körperliche und psychische Defekte bis hin zu dauerhafter Bewusstlosigkeit warfen Fragen der Ethik auf [Salomon 1996].
Damit wurde der Bedarf nach einem philosophisch-ethischen und religiösspirituellen Diskurs laut. Die Defizite einer begrenzten naturwissenschaftlichtechnischen Sicht wurden insbesondere den Betroffenen bewusst. Das bahnte in der Intensivmedizin einem Menschenbild den Weg, in dem der naturwissenschaftliche Aspekt relativiert und mit anderen Dimensionen zusammen zu sehen ist. Die psychosozialen Belastungen machten die Relationalität deutlich: Der Mensch als Beziehungswesen kann nicht ohne Schaden aus seinem Umfeld gelöst werden. Der jederzeit mögliche Kontakt zu vertrauten Angehörigen ohne Einschränkung durch starre Besuchszeiten, bei Neugeborenen zu den gerade Eltern gewordenen Personen, Bilder, lieb gewonnene Gegenstände, gern gehörte Musik und psychosoziale Orientierungshilfen wie Tagesrhythmen, Uhren oder Kalender wurden als stabilisierend in der kritischen Belastung einer Intensivstation erkannt [Hannich 1987]. Die Bedeutung dieses Kontaktes wurde schmerzlich bewusst, als 2020 infektionsbedingt strenge, manchmal zu strenge Besuchsbeschränkungen eingeführt wurden.
Fragwürdige Therapieergebnisse und Sinnfragen führten zu dem Wunsch, als Patient Einfluss auf Umfang und Begrenzung einer Therapie zu nehmen. So trat auch in der Intensivtherapie die Patientenautonomie in den Vordergrund [Wiesemann 2013]. Neben der vom Arzt zu stellenden medizinischen Indikation steht heute bei einer Therapieentscheidung gleichgewichtig der explizite, vorausverfügte oder mutmaßliche Wille des Patienten.