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4.4 Professionelle Ethikkonsultation
ОглавлениеIm Spektrum der verschiedenen Formen klinisch-ethischer Unterstützung spielt die Ethikkonsultation (EK) eine zentrale Rolle, und zwar meist als akute, prospektiv angelegte Beratung. Auch retrospektive Ethikberatung ist gefragt, z. B. dann, wenn eine Thematik oder ein Patientenschicksal in einem Team nicht konstruktiv abgeschlossen werden kann und anhaltend für Unruhe oder Verunsicherung sorgt. Verbreitet ist die Praxis der moderierten, interdisziplinären Sitzung (ggf. online, insbesondere seit Corona); Kurzformen (auch telefonisch) werden ebenfalls praktiziert. Gegenüber frühen Versuchen, in denen ganze Ethikkomitees auf Station aufliefen, um „Ethikberatung“ zu leisten, hat sich der „Small Team Approach“ durchgesetzt: Vermieden wird dadurch die unpersönliche Atmosphäre einer allzu formellen Sitzung mit womöglich bürokratischem Vorgehen und unnötig vielen (Un-)Beteiligten. Angestrebt wird hingegen eine möglichst vertrauensvolle und persönliche Aussprache, die von einer qualifizierten, unabhängigen Person geleitet wird. Diese Ethikfachperson kann bei Bedarf von Kollegen oder Mitarbeitenden begleitet und unterstützt werden, um inhaltliche Beiträge – etwa rechtliche oder seelsorgerliche – einzubringen oder auch, um praktische Hilfe zu leisten, v. a. beim Protokoll. Je nach Thematik werden gezielt interdisziplinäre Fachvertreter eingeladen, z. B. aus dem psychiatrischen Konsil- oder dem Sozialdienst.
Eine EK findet primär auf Wunsch von Mitarbeitenden der Patientenversorgung auf der jeweiligen Station statt und dauert in der Regel bis zu 60 Minuten. Anfragen von Patienten, deren Angehörigen oder Stellvertretern sind ebenfalls möglich. Behandelnde informieren die Patienten, bringen deren Ansichten in die EK ein und berichten ihnen auch über die Ergebnisse.
Grundlagen des Basler Ansatzes sind vor allem das Vier-Prinzipien-Modell der biomedizinischen Ethik und das Konzept eines systematischen Perspektivenwechsels, zudem ein Stufenmodell von Haltungen und Vorgehensweisen, wie man als Berater/in die normativ-ethische Dimension handhaben kann sowie Elemente der Diskursethik [Reiter-Theil und Schürmann 2016]. Während diese Komponenten die Ethikkonsultation rational ausrichten, stellt sich in der EK eine besondere Herausforderung: Es gilt, sich auf menschliche Tragödien, Verzweiflung oder Schuldgefühle einzulassen, dabei aber auch Trost und Versöhnung im Blick zu behalten.
Ethikberatung darf nicht auf eine organisatorische, technische oder psychologische Entscheidungshilfe verkürzt werden.
Die explizite Konsensbildung ist eine wichtige Aufgabe einer EK. Dieser wird nicht einfach „gefunden“, sondern von den Anwesenden mithilfe methodischer Schritte einer Ethikberatung erarbeitet. Am Ende des Prozesses soll ein Ergebnis stehen, das auf Basis eines strukturierten Protokolls über die diskutierten Optionen, Argumente pro und contra und deren abschließende Abwägung auch für Außenstehende gut nachvollziehbar ist. Ein kurzes Fazit erlaubt rasche Orientierung.
Es wird keine Entscheidung über eine Behandlung oder andere Intervention (z. z.B. Verlegung) an eine „ethische Autorität“ delegiert. Die Verantwortung für Behandlungsentscheidungen bleibt stets in der Vereinbarung zwischen der verantwortlichen Ärztin und dem Patienten oder dessen Stellvertreter („gemeinsame Entscheidungsfindung“/„shared decision making“). Die Ethikberaterin als Moderatorin trägt dabei eine Mitverantwortung, insbesondere für den Beratungsprozess und die ethische Angemessenheit der Beratungsergebnisse.
Schriftliche Ausarbeitungen zu ethisch besonders sensiblen oder kontroversen Themen als Leitfäden gehören ebenfalls zum Repertoire der klinisch-ethischen Unterstützung. Bei der Erarbeitung von institutionellen Ethik-Leitfäden oder Policies kann das in einer Organisation etablierte Ethikkomitee eine zentrale Rolle spielen, es können aber auch andere Arbeitsgruppen initiativ werden und bei Bedarf die Ethik dazu einladen. Eine hohe normative Geltung haben Richtlinien, die von Fachgesellschaften publiziert werden. Die Erfahrung zeigt zwar, dass klinische Teams institutionelle Ethik-Leitfäden wie auch (inter-) nationale Ethikrichtlinien ggf. eher im Rahmen von Ethikberatung oder gezielten Fortbildungen kennenlernen, als dass sie diese proaktiv recherchieren und zur Lösungssuche heranziehen. Dennoch sind solche schriftlichen Instrumente zukunftsfähige Formen der klinisch-ethischen Unterstützung, die freilich noch weiterer Begleitforschung, insbesondere zur Praxistauglichkeit, bedürfen.
Das folgende, authentische (anonymisierte) Fallbeispiel illustriert eine retrospektive EK zu einem Patienten nach Suizidversuch, der das behandelnde Team besonders beschäftigte.
Ein klinisches Team bittet um retrospektive Ethikberatung. Ethisch reflektiert werden sollen der Suizidversuch und die nachfolgende Versorgung eines seit zwei Tagen stationären 80-jährigen Patienten. Dieser hatte sich im Krankenzimmer zu erhängen versucht [Wetterauer und Reiter-Theil, 2020]. Er wurde nachts noch lebend aufgefunden und vom herbeigerufenen Reanimations-Team weiter versorgt, ohne reanimationspflichtig zu werden. Trotz seines Status „Intensivstation-nein“ und „Reanimation-nein“ (bei Aufnahme auf seinen Wunsch festgelegt) wurde er zur Therapie seines Sauerstoffmangels auf die Intensivstation verlegt und von dort nach Stabilisierung in die Psychiatrie. Anscheinend habe sich der Patient über seine Rettung beklagt. Da das klinische Team diese Thematik als sehr belastend erlebte und erkannte, dass ungeklärte Sachfragen zu Ethik und Recht im Raum standen, wurde eine retrospektive Ethikkonsultation anberaumt.
Hätte die Pflege das REA-Team gar nicht rufen sollen? Durfte der Patient überhaupt intensivmedizinisch behandelt werden? Bestand nach Schweizer Recht und Ethikrichtlinien vielleicht ein Anspruch darauf, dass er sich im Krankenhaus das Leben nimmt? Diese und weitere Fragen, wie z. B. seine Entscheidungsfähigkeit (Schweiz: Urteilsfähigkeit) zu unterschiedlichen Zeitpunkten, wurden im Lichte der Krankengeschichte diskutiert. Retrospektiv zeigt sich, dass initial keine Anzeichen von Suizidalität bei dem gut therapierbaren Patienten, der schon vor der Entlassung stand, festgestellt werden konnten. Die kontroverse Bewertung des Rechts auf Selbsttötung in der schweizerischen Gesellschaft spiegelt sich auch auf Station wider:
Hat man im Sinne des Patienten gehandelt, als man ihn gegen seinen Willen und den Status „Intensivstation-nein“ intensivmedizinisch behandelte?
Oder muss nach Suizidversuch „immer alles“ getan werden?
Welche rechtlichen Folgen könnte das eine oder andere Vorgehen nach sich ziehen?
Im Zuge der Vorbereitung der EK-Sitzung wurde seitens der Klinischen Ethik zur psychiatrischen Nachbehandlung recherchiert. Demnach ordnete der Patient seinen Suizidversuch rückblickend als „Kurzschlussreaktion“ auf den Klinikaufenthalt und seine Vereinsamung ein; auch hatte er seine künftige Pflegebedürftigkeit stark überschätzt und große Angst vor bleibender Abhängigkeit entwickelt. Eine Depression wurde nicht diagnostiziert. Als Anschlusslösung wurde eine betreute Wohnform in die Wege geleitet.
Dieses Feedback trug zur Entlastung des Teams angesichts der vom Patienten zunächst abgelehnten Rettung bei. Zusätzlich war es aber allen ein großes Anliegen, auf eine vergleichbare Situation künftig besser vorbereitet zu sein. Darum wurden offene Fragen und kontroverse Punkte sorgfältig durchgearbeitet. Hierzu gehörte die Klärung der institutionellen normativ-ethischen Rahmenbedingungen bezüglich Suizidalität sowie der Rechtslage. Eine Verpflichtung der Behandelnden zur Suizidbegleitung bestand in diesem Fall zu keinem Zeitpunkt: Die Zulässigkeit des begleiteten Suizids ist in der Schweiz an explizite Kriterien und deren Einhaltung in einem strukturierten Vorgehen gebunden [vgl. SAMW 2018; Reiter-Theil et al. 2018; Wetterauer und Reiter-Theil 2020], die hier nicht einmal ansatzweise vorlagen. Auch wenn die Reanimation und (kurzfristige) Verlegung in die Intensivstation vom Patienten ursprünglich nicht gewünscht waren, so konnte man doch vertreten, dass die bedrohliche Situation des Patienten durch ihn selbst als Folge einer akuten psychischen Krise bei gleichzeitigem Verlust der Entscheidungsfähigkeit herbeigeführt worden und daher zu behandeln war, zumal die Behandlung seiner ursprünglichen Beschwerden erfolgreich abgeschlossen war. Zu den sensiblen Themen Umgang mit Suizidalität und Suizidbeihilfe stehen im Universitätsspital Basel zwei unterschiedlich ausgerichtete Ethik-Policies zur Verfügung [s. Weblinks]. Trotz der allgemeinen Orientierung, die diese Texte geben, erwies sich die persönliche Aussprache mittels retrospektiver Ethikkonsultation hier als das bevorzugte Mittel der Wahl.
Zu allen EKs der Basler Universitätsspitäler werden die Ratsuchenden um eine nachträgliche Evaluation gebeten. Im Feedback zu diesem Fall wurden neben dem schriftlichen Protokoll vor allem folgende Punkte positiv hervorgehoben: die Strukturierung und Interdisziplinarität des Gesprächs, die ethische Einschätzung und rechtliche Absicherung. So habe die retrospektive EK zur moralischen Entlastung und Stärkung der ethischen Kompetenz beigetragen. Genützt habe die EK sowohl dem Team als auch den einzelnen Teilnehmenden persönlich. (Im Unterschied zu prospektiven EK steht hier der Nutzen für den betreffenden Patienten, der bereits verlegt war, nicht im Vordergrund.)
Gegenüber den vorrangigen Zielen der Früherkennung (oder Verhütung) von ethischen Problemen sowie der raschen Hilfe durch Selbsthilfe, bei denen die Stufen 1 bis 3 von METAP eine große Hilfe darstellen [Meyer-Zehnder et al. 2021], ist die professionelle Ethikkonsultation – als Stufe 4 – keine Konkurrenz, sondern eine konsequente Erweiterung der Möglichkeiten zur Hilfestellung. Frühe Erfahrungsberichte kennzeichneten die EKen häufig noch als hochakute Beratungen von Seltenheitswert, oft im kleinen Kreis. Der aktuelle Trend, jedenfalls an den Universitätsspitälern in Basel, geht jedoch weiter: Die professionelle ethische Beratung wird zunehmend für Fälle besonderer Komplexität mit zahlreichen institutionellen Beteiligten in Anspruch genommen [Reiter-Theil 2016] – für Fälle, in denen man früher gar nicht auf eine einvernehmliche Lösung gehofft, sondern resigniert hätte, wie ein langjähriger klinischer Beobachter feststellte.