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3.1 Das Umfeld der Entscheidungen in der Intensivmedizin und -pflege
ОглавлениеDie Arbeit im Intensivbereich beinhaltet die ständige Konfrontation mit Grenzsituationen, denn durch die intensivmedizinischen Maßnahmen entsteht ein vergrößerter Übergangsbereich zwischen Leben und Tod, der Beurteilungen erschwert. Grenzsituationen des Leidens und Sterbens sind existenzielle Fragen, die uns alle betreffen und betroffen machen. Sie werden als Ausnahmesituation erlebt und im normalen Leben gern verdrängt. Dies kann ein Grund für die emotionale Aufgeladenheit mancher Debatten um die Grenzen des Lebens sein, verdeutlichen sie doch jedem von uns die Unausweichlichkeit unserer eigenen Sterblichkeit und damit der menschlichen Grundsituation [vgl. dazu Rehbock 2005: 37].
Die konkreten Fragen, die sich in Intensivmedizin und -pflege häufig stellen, sind
Fragen nach der Sinnhaftigkeit der Therapie, welche die
Fragen nach der Indikation mit einschließt,
Fragen nach der Lebensqualität bzw. des Leidens von Patienten und der Bedeutung, die die Entscheidungen für ihn persönlich haben, sowie
Fragen nach Indikatoren für den häufig unklaren Willen des Patienten.
Die Entscheidungssituation in den Intensivbereichen ist weiter geprägt von unterschiedlichen Wertorientierungen und Einstellungen der Beteiligten, die aufgrund des üblichen Mangels an regelmäßiger berufsübergreifender Reflexion meist nicht transparent sind, sowie durch Zeitdruck, Hierarchien und rechtliche Unsicherheit. Einseitige und nicht abgesprochene Entscheidungen können die Folge eines unreflektierten Ethos sein, das ärztliche Fürsorge vor allem mit einem hohen Aufwand an apparativer und medikamentöser Medizin gleichsetzt und nicht mit Betreuung und Begleitung.
Auch der Umgang mit Angehörigen wird oft eher als Belastung denn als Entlastung bei nötigen Entscheidungen gesehen.
Im Unterschied zu anderen klinischen und ambulanten Versorgungsbereichen werden im Intensivbereich deutlich häufiger echte Entscheidungen notwendig, die allerdings nicht immer unter Zeitdruck gefällt werden müssen. Manche Entscheidungsnotwendigkeiten sind vorab absehbar und können entsprechend vorbereitet werden. Um Entscheidungsnotwendigkeiten rechtzeitig absehen zu können und nicht im Trubel des Alltags davon überrollt zu werden, braucht man die Fähigkeit, im eigenen Alltag zu erkennen, wenn eine Situation moralische Fragen aufwirft – ein Element der ethischen Kompetenz, welche wie folgt definiert werden kann:
„Ethische Kompetenz beinhaltet die Fähigkeit zur Reflexion, Formulierung und Begründung der eigenen moralischen Orientierungen, die Fähigkeit zum Erkennen moralischer Probleme in der eigenen Praxis, Urteilsfähigkeit, Diskursfähigkeit, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, Konflikt- und Kompromissfähigkeit und schließlich die Wachheit und den Mut, auch tatsächlich moralisch zu handeln und für die Rahmenbedingungen des eigenen Handelns Mitverantwortung zu übernehmen.“ [Rabe 2017]
Die Förderung und Übung dieser Kompetenz ist ein wichtiges Ziel in der Ausbildung der Helferberufe, damit Entscheidungssituationen nicht in Konfliktsituationen oder Chaos umkippen. Deshalb ist eine Verengung auf Entscheidungsfindung, die auch einige der existierenden Modelle zeigen, kontraproduktiv: Voraussetzung für gute Entscheidungen ist die Fähigkeit zu ethischer Reflexion.