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Entsetzung
ОглавлениеIn seinem Essay Zur Kritik der Gewalt von 1921 führt Walter Benjamin (1892–1940) den rechtswissenschaftlichen Terminus E. in die Philosophie ein: In Benjamins Modell der ↗ Geschichte markiert die E. des Rechtes zugleich den Beginn eines neuen historischen Zeitalters. Benjamin (1977, 186–191) begreift Gewalt dabei als Funktion des Rechtes und differenziert zwischen rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt. Recht wird in der neuzeitlichen Rechtsgeschichte gleich der ↗ Kultur immer ↗ Raum erzeugend und territorialisierend gedacht, so etwa Carl Schmitts (1888–1985) Begriffe des Nomos und der Landnahme (↗ Nahme). Von jenen beiden Funktionen des Rechtes unterscheidet Benjamin die ‚reine‘ Gewalt, die nicht mehr Mittel oder Zweck der Setzung oder Reproduktion von Recht ist, sondern das Recht samt seiner Gewalten ‚ent-setzt‘ (ebd., 202). Das neue geschichtliche Zeitalter gründet sich demnach nicht in einer Ersetzung des Rechtes durch ein anderes, sondern in seiner absoluten E. In diesem Sinne ist die E. des Rechtes im Gegensatz zum nicht legitimierbaren Recht ein allererst setzender, performativer (↗ Performanz) Akt, ein „absolut imperformatives, afformatives politisches ↗ Ereignis“ (Hamacher 1994, 346) – wobei das Afformativ als Gegensatz jeder Rechtsetzung im Sinne einer ↗ Deterritorialisierung zu begreifen ist. Als Beispiel führt Benjamin (1977, 184) den revolutionären (↗ Wende) Generalstreik an, der als „Abbruch von Beziehungen“ auf die Abschaffung des Staates bzw. der Rechtsordnung zielt. Während die historische ↗ Dauer als Kategorie von Rechtssetzung und -erhalt erscheint, muss die reine Gewalt ohne jede Form der ↗ Zeit und der ↗ Repräsentation sowie darüber hinaus auch ohne jede Räumlichkeit bleiben. Schon die Etymologie des Entsetzens, jenes ‚außer Fassung bringen/geraten‘, verweist auf einen Entzug von Räumlichkeit (↗ Verschwinden): Insofern bezeichnet E. immer auch ein jeder ↗ Topographie und ↗ Topologie sich entsetzendes Afformativ.
Literatur: Blumentrath 2009; Derrida 1991; Hamacher 1994.
Agamben, Giorgio (2002): Homo sacer, Frankfurt a. M. [ital. 1995].
Benjamin, Walter (1977): Zur Kritik der Gewalt, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3/1, Frankfurt a. M., 179–203 [1921].
Blumentrath, Hendrik u.a. [Hg.] (2009): Techniken der Übereinkunft, Berlin.
Derrida, Jacques (1991): Gesetzeskraft, Frankfurt a. M. [frz. 1990].
Hamacher, Werner (1994): Afformativ, Streik, in: Was heißt ‚Darstellen‘?, hg. v. Ch. L. Hart Nibbrig, Frankfurt a. M., 340–371.
Claudia Röser