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Euklidik

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Der seit dem 20. Jh. benutzte Begriff E., benannt nach dem griechischen Mathematiker Euklid (ca. 360–ca. 280 v. Chr.), verallgemeinert Anschauungsformen, die den euklidischen ↗ Raum als natürlichen physikalischen (↗ Physik) Raum und die euklidische ↗ Geometrie als deren ↗ Theorie auffassen. Euklid stellte das mathematische ↗ Wissen seiner Zeit in den um 325 v. Chr. entstandenen Stoicheia zusammen. Die darin dokumentierte Geometrie wird euklidisch genannt und gilt bis ins 19. Jh. hinein als lebensweltlich und wissenschaftlich übliche Form der Raumanschauung (↗ Anschauung): Gemäß Immanuel Kants (1724–1804) Kritik der reinen Vernunft von 1781 beruht die Gewissheit der geometrischen Grundsätze darauf, dass der Raum eine notwendige (↗ Bedingtheit) Vorstellung a priori ist, die allen äußeren ↗ Anschauungen zugrunde liegt (A 24f./B 38f.). Seit dem 19. Jh. steht die E. im Gegensatz zu anderen möglichen Geometrien, die unter der Bezeichnung ‚↗ Nichteuklidik‘ zusammengefasst werden. Entscheidend für die Trennung ist die Frage der Gültigkeit des Parallelenpostulates. In den 1960er Jahren kritisiert der ungarische Wissenschaftshistoriker Árpád Szabó (1969) die verbreitete Vorstellung, dass der axiomatische Aufbau der E. auf platonische Ideenlehre und aristotelische Wissenschaftslehre zurückzuführen sei: Die Dreiteilung der Grundaussagen in Definitionen, Postulate und Axiome bei Euklid sei ein Resultat der dialektischen (↗ Dialektik) Auseinandersetzung mit der Lehre des Parmenides (ca. 520–ca. 460 v. Chr.) und den Paradoxien Zenons (ca. 333–ca. 262 v. Chr.). Da die parmenideische Philosophie mit dem tertium non datur das wichtigste Instrument für die seit dem 5. Jh. v. Chr. üblich gewordene indirekte Beweismethode liefert, kann deren Einspruch nicht übergangen werden. Als Folge kann sich eine Theorie nicht auf sinnliche (↗ Sinn) ↗ Wahrnehmung berufen, sondern lediglich auf die ↗ Logik ihrer Argumente. Raum, ↗ Zeit und ↗ Bewegung sind in einem solchen System nicht widerspruchsfrei denkbar. Die Arithmetik lässt sich auf diese Weise begründen und gilt daher bei Platon (427–347 v. Chr.) als reine Wissenschaft, während die Geometrie als Raumlehre (↗ Chora) zufolge dem Dialog Timaios (52b) eine Zwischenposition zwischen Meinung (gr. doxa) und Wissen (gr. noesis) einnimmt. Um sie gemäß der strengen ↗ Ordnung der Arithmetik widerspruchsfrei aufbauen zu können, nimmt Euklid insbesondere jene Grundaussagen, welche die Konstruierbarkeit geometrischer Objekte (↗ epistemisches Objekt) betreffen und lediglich anschaulich, aber nicht logisch evident sind, als Forderungen oder zugestehbare Grundsätze (gr. aitemata) auf. Nachdem die Lehre des Parmenides ihren Einfluss verliert und Aristoteles (384–322 v. Chr.) die Paradoxien Zenons zu Sophismen (absichtliche Fehlschlüsse) erklärt, wird die Dreiteilung der Grundannahmen durch Euklid unverständlich und Postulat und Axiom gelten als synonym und evident. Die Problematik des Verhältnisses von formaler ↗ Wahrheit und physikalischem Raum wird erst in Folge der Unbeweisbarkeit des Parallelenpostulates wieder virulent: Das Parallelenpostulat ist eine der Forderungen nach Konstruierbarkeit in Euklids ↗ Axiomatik und sichert die Ausführbarkeit der Konstruktion eines Dreiecks, von dem eine Grundseite und zwei ↗ Winkel <90° gegeben sind. Das Postulat besagt, dass in diesem Fall ein Schnittpunkt existiert. Aus vergeblichen Beweisversuchen entwickeln sich im 19. Jh. die nichteuklidischen Geometrien und es kann gezeigt werden, dass eine Geometrie ohne dieses Postulat widerspruchsfrei ist.

Literatur: Becker 1975; Filler 1993; Kirk et al. 1994.

Becker, Oskar (1975): Grundlagen der Mathematik in geschichtlicher Entwicklung, Frankfurt a. M.

Filler, Andreas (1993): Euklidische und nichteuklidische Geometrie, Mannheim u.a.

Kirk, Geoffrey S./Raven, John E./Schofield, Malcolm (1994): Die vorsokratischen Philosophen, Stuttgart/Weimar.

Szabó, Árpád (1969): Anfänge des euklidischen Axiomensystems, in: Zur Geschichte der griechischen Mathematik, hg. v. O. Becker, Darmstadt, 355–461 [engl. 1960].

Ellen Harlizius-Klück

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