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Erdbeben

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E. sind Erschütterungen des Erdkörpers aufgrund von dynamischen ↗ Prozessen im Erdinneren, ausgelöst durch das Zusammenbrechen unterirdischer Hohlräume (↗ Höhle) als sog. Einsturzbeben (ca. 3 %), durch Vulkanausbrüche als sog. vulkanische Beben (ca. 7 %) oder durch Dislokationsbeben (ca. 90 %) aufgrund von Verschiebungen (↗ Deterritorialisierung) innerhalb der ↗ Tektonik der Kontinentalplatten (↗ Kontinent). E. auf dem Meeresgrund werden auch als ‚Seebeben‘ bezeichnet. Das heutige seismologische Verständnis zur Plattentektonik und Kontinentaldrift geht auf Alfred Wegeners (1880–1930) Schrift Die Entstehung der Kontinente und Ozeane von 1915 zurück und stuft das E., je nach messbarer Erschütterung auf der Richterskala (↗ Metrik), als ‚Naturkatastrophe‘ (↗ Natur) ein, mit gravierenden Auswirkungen für die Erdoberfläche bis zur völligen Zerstörung des menschlichen ↗ Lebensraums. Im griechischen ↗ Mythos wird Poseidon, der Gott des ↗ Meeres, für das E. verantwortlich gemacht; er gilt laut Homers Ilias (20,57ff.) als ‚Erderschütterer‘, da er seinem Zorn und seiner Rebellion gegenüber dem Bruder Zeus (der die Vormachtsstellung im Olymp innehat) in Form von Stürmen (↗ Wirbel) und E. ↗ Ausdruck verleiht, wie in der Odyssee (5,291ff., 11,399f. u. 24,109f.) berichtet wird. Die Initiierung von räumlichem ↗ Chaos wird damit bereits einer übergeordneten Instanz zugeschrieben. In antiken naturphilosophischen Untersuchungen zur Seismologie (Aristoteles, Seneca, Lukrez, Plinius d.Ä. u.a.) sowie in den Beschreibungen antiker Historiker und Geographen (Herodot, Thukydides, Pausanias, Strabon u.a.) werden E., wie von Aristoteles (384–322 v. Chr.) in Meteora (338b20, 341b6ff., 366a5ff. u. 370a25–32), als Wetterphänomene gesehen oder stehen, wie im sechsten Buch von Senecas (ca. 1–65) Naturales quaestiones (1,1–14; 2,9; 3,1f.; 32,12), im Kontext der Mikrokosmos-Makrokosmos-Analogie für den ↗ Tod der ↗ Erde wie des Menschen. In der Bibel erscheinen E. (lat. terraemotus) als Ausdruck des ↗ Zornes Gottes und wichtiges Machtsymbol (↗ Macht), das er sowohl als Waffe gebraucht wie auch als Zeichen seiner Zustimmung und Unterstützung. Bei Thomas von Aquin (ca. 1225–1274) gilt einerseits Gott (↗ Allgegenwart) als erste Ursache (lat. prima causa) der E. (↗ Kausalität), andererseits wird die pneumatische Erklärung des Aristoteles als zweite Ursache (lat. secunda causa) übernommen. Dieser widerspruchslose Zusammenhalt von Religion und Naturwissenschaft baut auf einer Art philosophischem ‚Optimismus‘ auf, demzufolge „die Güte Gottes eine Eintracht des Willens des Schöpfers mit den Gesetzen der Schöpfung verlangt“ (Dombois 1999, 16). Dementsprechend entzündet sich in der Aufklärung am ↗ Ereignis E. der sog. Theodizeestreit (von gr. theos, für ‚Gott‘ und gr. dike, für ‚Gerechtigkeit‘): die Frage nach der Versöhnbarkeit von Gottes ‚Güte‘ und dem Bösen in der ↗ Welt führt Gottfried W. Leibniz (1646–1716) in seinen Essais de théodicée von 1710 zum Apodiktum von der ‚besten aller möglichen (↗ Möglichkeit) Welten‘, was wiederum Voltaire (1694–1778) angesichts des verheerenden E.s von Lissabon im Jahr 1755 in seinem Roman Candide ou l’optimisme von 1758 auf bissige Weise persifliert (↗ Ironie). Damit werden seit Beginn der Neuzeit und v.a. ab der Spätaufklärung bis zur Romantik (so bei Lessing, Kant, Goethe, Kleist u.a.) E. als ↗ Metaphern zweifelhafter gottgegebener ↗ Ordnung dargestellt, aus denen sich grundlegende ↗ Diskurse zur Metaphysik generieren: Die Rechtfertigung und Existenz Gottes wird angesichts dessen Tolerierung von Krieg (↗ Frieden), Gewalt, Zerstörung und Naturkatastrophen in Frage gestellt.

Literatur: Briese 1998; Schachermeyr 1950; Vahland 1997.

Briese, Olaf (1998): Die Macht der Metaphern, Stuttgart.

Dombois, Florian (1999): Über Erdbeben, edoc.hu-berlin.de/dissertationen/geologie/dombois-florian/PDF/Dombois.pdf.

Schachermeyr, Fritz (1950): Poseidon und die Entstehung des griechischen Götterglaubens, Salzburg.

Vahland, Joachim (1997): Von Erd- und anderen Beben, in: Ulrich Schödlbauer/ders.: Das Ende der Kritik, Berlin, 45–69.

Ute Seiderer

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