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Erzählung
ОглавлениеIm dritten Buch von Platons (427–347 v. Chr.) Politeia verhandelt Sokrates das Problem der Wirklichkeitsdarstellung in der E. und unterscheidet die ‚einfache‘ E. durch einen Erzähler von der mimetisch-nachahmenden E. durch handelnde Figuren (392c–394b). Beide Arten der E. stellen, entgegen einer verbreiteten Fehlrezeption (Antor 2004), Formen der ‚Erörterung‘ (gr. diegesis) dar (↗ Diskurs); Mimesis und Diegesis bilden folglich keine Gegenbegriffe. Abgeleitet vom Begriff der Diegesis prägen die Filmwissenschaftler Étienne Souriau (1892–1979) und Anne Souriau um 1950 den Neologismus Diegese (frz. diégèse), welcher der Analyse des raumzeitlichen (↗ Raumzeit) ↗ Kontinuums einer erzählten ↗ Welt dient. Der Begriff der Diegese muss demnach von dem der Diegesis klar unterschieden werden: Die Diegesis bezeichnet im ursprünglichen Sinne die E., die Diegese das raumzeitliche Universum (↗ All), das aus dieser E. hervorgeht. Die Kategorie der Diegese ist auf prinzipiell alle ↗ Medien, die erzählen oder eine Welt darstellen – Film, Literatur (↗ Einheit), Malerei (↗ Kunst), Fotografie (↗ Schnitt), Comic oder Computerspiel (↗ Zauberkreis) – anwendbar und gehört seit den Arbeiten Gerard Genettes zu den Grundbegriffen der Narratologie. In dem Aufsatz La structure de l’univers filmique et le vocabulaire de la filmologie von 1951 bestimmt Etienne Souriau die Diegese als die implizierte ↗ Topographie, innerhalb derer sich die Geschichte abspielt: Der diegetische Raum wird vom Rezipienten auf Grundlage (film-)sprachlicher (↗ Sprache) und erzähllogischer (↗ Logik) Konventionen sowie seines Weltwissens (↗ Wissen) als ein ↗ Raum von innerer Kohärenz (re-)konstruiert. Erst so wird aus der zweidimensionalen (↗ Dimension), von einem ↗ Rahmen begrenzten ↗ Oberfläche des auf die Leinwand projizierten ↗ Bildes der dreidimensionale Raum (↗ Tiefe) der Diegese. Für den Film unterscheidet Souriau (1997) diverse raumzeitliche Wirklichkeitsformen, insbesondere die afilmische Wirklichkeit (↗ Kausalität), welche gänzlich unabhängig vom Film existiert, sodann die profilmische Wirklichkeit, die von der Kamera abgelichtet wird, wie etwa die Kulisse (↗ Index), ferner die filmographische Wirklichkeit, d.h. das Bild auf dem Filmstreifen, darüber hinaus die filmophanische oder leinwandliche Wirklichkeit, d.h. die ↗ Projektion des Filmes, sowie schließlich die Diegese. Jeder Film enthält neben den diegetischen, der erzählten Welt zugehörigen ↗ Elementen ebenso nichtdiegetische Elemente wie bspw. Titeleinblendungen, schriftliche Inserts, Abspann, ↗ Musik – die nicht innerhalb der erzählten Welt, sondern nur für den Filmzuschauer zu hören ist – oder ‚Voice over‘-Kommentare aus dem ↗ Außerhalb. Gérard Genette (2010) überträgt die Kategorie der Diegese auf die Literatur (↗ Standpunkt) und leitet daraus weitere Analysekategorien ab: Demnach ist im Hinblick auf die Diegese zu klären, ob ein Erzähler innerhalb oder außerhalb der erzählten Welt steht (homodiegetischer vs. heterodiegetischer Erzähler), sowie auf welcher Ebene im Fall des ‚erzählten Erzählens‘, d.h. bei ineinander verschachtelten (↗ Schachtel) E.en, erzählt wird (bspw. extra-, intra-, meta- oder metametadiegetischen Erzählebenen). In jüngster Zeit erhält die Kategorie der Diegese neue Aufmerksamkeit durch die Game Studies (Galloway 2006), in denen sie mit Konzepten des hodologischen Raums (↗ Hodologie) zu verbinden ist (Günzel 2010).
Literatur: Baßler 2010; Bordwell 1985; Fuxjäger 2007; A. Souriau 1990.
Antor, Heinz (2004): Diegese, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. v.A. Nünning, Stuttgart/Weimar, 115f.
Baßler, Moritz (2010): Diegese und Simulation, in: Intermedien, hg. v.A. Kleihues, B. Naumann u. E. Pankow, Zürich, 553–568.
Bordwell, David (1985): Narration in the Fiction Film, London.
Fuxjäger, Anton (2007): Diegese, Diegesis, diegetisch, in: montage AV 16/2, 17–37.
Galloway, Alexander R. (2006): Gaming Action, in: ders.: Gaming, Minneapolis/London, 1–38.
Genette, Gérard (32010): Die Erzählung, München [frz. 1972/83].
Günzel, Stephan (2010): Von der Zeit zum Raum, in: Rabbit Eye 2, www.rabbiteye.de/2010/2/guenzel_computerspiel-medium.pdf
Souriau, Anne (1990): Diégèse, in: dies./Souriau, Étienne: Vocabulaire d’esthétique, Paris, 581–583.
Souriau, Étienne (1997): Die Struktur des filmischen Universums, in: montage AV 6/2, 140–157 [frz. 1951].
Björn Weyand