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Erinnerungsort
ОглавлениеDer Begriff E. (frz. lieu de mémoire) wird von dem französischen Historiker Pierre Nora geprägt, der von 1984 bis 1992 seine siebenbändige Sammlung Les lieux de mémories veröffentlicht. Seitdem findet der Begriff Eingang in fast alle europäischen Sprachen. Der deutsche Begriff ‚E.‘ hat sich spätestens mit der Veröffentlichung der drei Bände Deutsche Erinnerungsorte durch die Historiker Étienne François und Hagen Schulze (2001) allgemein durchgesetzt. Der Begriff knüpft auf der einen Seite an den Begriff des ‚kollektiven ↗ Gedächtnisses‘ (frz. mémoire collective) an, der ab den 1920er Jahren von dem französischen Soziologen Maurice Halbwachs (1877–1945) entwickelt wird, und auf der anderen Seite an traditionelle (rhetorische) Toposkonzepte. Entsprechend ist der E. nach Nora in einem sehr weiten Sinne zu verstehen: Er reicht von geographischen (↗ Geographie) ↗ Orten über konkrete materielle Objekte bis hin zu Symbolen, Institutionen und abstrakten Begriffen. Der Begriff des E.es hat nicht den Gegenstand der ↗ Erinnerung im Blick, sondern bezeichnet den Ort, an dem die Erinnerung arbeitet. Ein E. ist also so etwas wie ein Kristallisationskern (↗ Kristall) der Erinnerung, der von deren jeweiligen Manifestationen weitgehend unabhängig ist. Damit löst sich der Gedanke einer Erinnerungstopographie (↗ Topographie), wie er bereits von Halbwachs (2003) entwickelt wird, weitgehend von einem unmittelbar geographischen Raumkonzept. Hintergrund der Begrifflichkeit von Nora ist die Erfahrung einer historischen Entwurzelung, deren maßgebliches ↗ Paradigma die fortschreitende Auflösung bestimmter Formen nationaler Erinnerung bildet. Die E.e Noras bilden in der ↗ Form von Fragmenten gewissermaßen die Überbleibsel einer nationalen Erinnerungskultur, die im Zeitalter der ↗ Globalisierung und der Europäisierung (↗ Okzident) zunehmend an kohäsionsstiftender Kraft einbüßt. Diese nationale Perspektive prägt auch die an Nora anschließende Forschung maßgeblich. Freilich wird die Konstruktion mehr oder weniger homogener nationaler Erinnerungsräume (Dorn/Wagner 2011) wiederholt auch zum Gegenstand der Kritik. Entsprechend widmet die jüngere Erinnerungsforschung dem Faktor der geteilten oder transnationalen Erinnerung besondere Aufmerksamkeit (Boer et al. 2012; Csáky et al. 2007). Neben dem Begriff des E.es hat sich zwischenzeitlich auch der Begriff des ‚kulturellen Gedächtnisortes‘ (Raabe 2009) etabliert, der sich jedoch hauptsächlich auf Erinnerungsstätten bezieht, die v.a. mit bedeutenden Persönlichkeiten verbunden sind.
Literatur: Assmann 1996; Nora 1990; Wagenbach 2004.
Assmann, Aleida (1996): Im Zwischenraum von Geschichte und Gedächtnis, in: Erinnerungsorte, hg. v. É. François, Berlin, 19–27.
Boer, Pim den u.a. [Hg.] (2012): Europäische Erinnerungsorte, 3 Bde., Berlin.
Csáky, Moritz/Celestini, Federico/Tragatschnig, Ulrich [Hg.] (2007): Barock – ein Ort des Gedächtnisses, Wien/Köln/Weimar.
Dorn, Thea/Wagner, Richard (2011): Die deutsche Seele, München.
François, Etienne/Schulze, Hagen [Hg.] (2001): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München.
Halbwachs, Maurice (2003): Stätten der Verkündigung im Heiligen Land, Konstanz [frz. 1941].
Nora, Pierre (1990): Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin [frz. 1984/86].
Ders./François, Etienne [Hg.] (2005): Erinnerungsorte Frankreichs, München [frz. 1984–1992].
Majerus, Benoît (2009) [Hg.]: Nationale Erinnerungsorte hinterfragt, Brüssel u.a.
Raabe, Paul (2009): 20 kulturelle Gedächtnisorte, Wiederstedt.
Wagenbach, Klaus [Hg.] (2004): Atlas, Berlin [1965].
Andreas Gipper