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Erde

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E. (gr. gaia oder ge, lat. tellus) ist kein durch die ↗ Theorie scharf umrissener Raumbegriff, vielmehr ist E. ein Funktionsbegriff mit ganz verschiedenen Bedeutungen, wobei sich mindestens acht verschiedene Konzeptionsebenen unterscheiden lassen: 1. topologisch als konsistente ↗ Fläche und ↗ Oberfläche für ↗ Bewegung, Kommunikation und Interaktion (↗ Handeln), als räumlich-horizontale Lebensbasis, auch im Sinne von ‚Land‘ oder ‚Festland‘; 2. juristisch als individueller, kollektiver, nationaler oder gesamtkultureller Eigentumstitel im Sinne von ↗ Grund und ↗ Boden (Dimension); 3. agrikulturell-chemisch als stoffliche ↗ Schicht und als vorwiegend pflanzlicher ↗ Lebensraum; 4. geologisch als räumlich-homogenes Gebilde, ggf. mit gestaffelter Tiefendimension von harten zu flüssigen Schichten, kalten zu heißen Bezirken, erschlossenen zu unerschlossenen ↗ Zonen; 5. astronomisch als planetarischer (↗ Bahn), kosmischer (↗ Kosmos) Körper; 6. ökonomisch-ökologisch als Ressourcenspender (↗ Tragfähigkeit) und soziokultureller Lebensraum (↗ Sozialraum); 7. ästhetisch als ↗ Natur bzw. ↗ Landschaft; 8. religiösmetaphysisch als ein bzw. der ↗ Ort und ggf. katastrophaler Ort von Leben schlechthin (↗ Kränkung). Ausgeformte E.vorstellungen finden sich erstmals in der griechischen Antike. Dabei sind die Raumbezüge unübersehbar meist anthropomorph aufgeladen. E. agiert nach den Maßstäben des menschlichen ↗ Leibes und der menschlichen Sexualität (↗ Geschlecht). Wie sehr noch in Zeiten der Aufklärung E. einen konkreträumlichen Topos bildet, verdeutlichen E.theorien Immanuel Kants (1724–1804), die sich v.a. in seinen Schriften anlässlich des Bebens von Lissabon 1755 finden (Adickes 1911). Der körperlich-anthropomorphe Maßstab hat sich zu einem kulturell-soziomorphen gewandelt. Kant spricht ausdrücklich von einer Arbeit der Natur: Die E. setze ihre Werkzeuge in Bewegung. Sie sei von ↗ Kanälen untergraben, die irdische Kruste sei als Fußboden anzusehen. Darunter erstreckten sich irdische Hallen und Kamine. Sogar das kühne Bild eines unterirdischen Kalkofens findet sich. Auch kommt Kant, bezogen auf E.beben und Vulkane, immer wieder auf den Vergleich mit Zunder, Pulver oder Mine zurück (Briese 2008). Innerhalb romantischer Theorien ist eine Anthropomorphisierung zu beobachten, die, im Anschluß an eine lange Traditionslinie, v.a. die leiblich-schaffenden Qualitäten von E. herausstellt: In Rückgriff auf die neuplatonische Renaissancemystik – die wiederum antike Antropomorphisierungen, u.a. von Hesiod aus dem 7. Jh. v. Chr., beerbt – werden ‚Terra‘-, ‚Magna Mater‘-, ‚Cybele‘- und ‚Demeter‘-Motive Sinnbilder nicht nur der Literatur, sondern auch der romantischen E.wissenschaften, die eine Synthese aus rational-aufklärerischen und mythisch beeinflussten Wissensbeständen (↗ Wissen) anstreben. Es kommt zu verweiblichenden Konnotierungen von E., die sich hauptsächlich auf uterine Phänomene konzentrieren, wie etwa Henrich Steffens (1773–1845) Beyträge zu einer innern Naturgeschichte der Erde von 1801. Diese Traditionslinie einer Femininisierung von E. reicht hin bis zu lebensphilosophisch-pessimistischen Kultur- und Zivilisationskritiken des 20. Jh.s, wie Theodor Lessings (1872–1933) Der Untergang der Erde am Geist von 1924. In positiver Weise wird sie aufgegriffen und ausgeformt in den evolutionstheoretischen Hypothesen – u.a. des Biophysikers James Lovelock (1991) –, die unter Rückgriff auf Leibesvorstellungen die E. und ihre Biosphäre als lebendes, sich selbst organisierendes und optimierendes System verstehen (↗ Gaia). Ein ganz anderes, ein Schwundkonzept von E. vertritt der Philosoph Peter Sloterdijk (2005), indem er den Zusammenhang von E., ↗ Globus und ↗ Globalisierung thematisiert, indem er sich der sog. terrestrischen Globalisierung, mithin der Vorgeschichte dessen, was gegenwärtig als Globalisierung in ganz verschiedenen Wissenszweigen diskutiert wird, widmet. Ohne auch nur eine ansatzweise Auseinandersetzung mit den in den letzten Jahrzehnten entwickelten Theoremen einer Wiederkehr des Raums (↗ Spatial Turn), vertritt Sloterdijk eine postmodern (↗ postmoderner Raum) anmutende Position: die eines postgeschichtlichen (↗ Nachgeschichte) und posträumlichen Zeitalters. Die Totalisierung der E. durch Geld und ↗ Kapital führe zu einer räumlichen Inversion, zu einer Raumumkrempelung, zu einem E.schwund. Der äußeren, kolonialen Eroberung (↗ Nahme) des E.raums, also der E.oberfläche, folge nun eine Art von innerer kapitalistischer Eroberung (↗ Deterritorialisierung).

Literatur: Böhme 1992; Böhme/Böhme 1996; Briese 2007; Wirth 1967.

Adickes, Erich (1911): Kants Ansichten über Geschichte und Bau der Erde, Tübingen.

Böhme, Gernot (1992): Erde, in: Erde – Zeichen – Erde, hg. v. D. Cordes-Vollerst, Bonn, 18–66.

Ders./Böhme, Hartmut (1996): Feuer, Wasser, Erde, Luft, München.

Briese, Olaf (2007): Erde, in: Wörterbuch philosophischer Metaphern, hg. v. R. Konersmann, Darmstadt, 92–102.

Ders. (2008): Immanuel Kants wesentliche kulturelle Translation, in: Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert, hg. v. G. Lauer u. Th. Unger, Göttingen, 482–500.

Sloterdijk, Peter (2005): Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt a. M.

Wirth, Karl-August (1967): Erde, in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 5, Stuttgart, 997–1104.

Olaf Briese

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