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Kolumbus und da Gama – Erinnerungsfiguren eines geeinten Europa?

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Der historische Rückblick ermöglicht, die Rolle Kolumbus’ und da Gamas für die Entstehung eines impliziten Verständnisses der europäischen Entdeckungsgeschichte zu identifizieren, doch welche Rolle besaßen sie in der expliziten Suche nach einer europäischen Erinnerungskultur im Kontext des Integrationsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg? Die Notwendigkeit, den europäischen Staatenbund durch einen minimalen identitären Kitt zu verbinden, der für den Zusammenhalt und Rückhalt der Bürger sorgt, ließ in jener Zeit zahlreiche geschichtspolitische Initiativen entstehen. Während jedoch der Krieg, der Holocaust und die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts erfolgreich zu europäischen Erinnerungsorten, ja gar zu Gründungsmythen des vereinten Europa geworden sind, ist der Einsatz Kolumbus’, da Gamas und anderer Entdecker in der Inszenierung europäischer Identität weit bescheidener. Da der europäische Integrationsprozess bereits zu postkolonialen Zeiten stattfand, erscheint der Rückgriff auf die europäische Expansion als Säule europäischer Identität problematisch. Nur sehr zurückhaltend an den Entdeckermythos (und nicht an den Eroberermythos) anknüpfend, gab die Europäische Weltraumorganisation ihrem Beitrag zur Internationalen Raumstation deshalb den Namen Columbus.

Die Feierlichkeiten zum 500-jährigen Jubiläum der Entdeckung Amerikas konnten 1992 deshalb auch nicht länger in demselben enkomiastischen Stil wie 100 Jahre zuvor gefeiert werden – weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene. Der Versuch, Spanien als eine ehemalige Entdeckernation in Szene zu setzen, stieß in Lateinamerika auf selbstbewussten Widerstand. Dass die Stadt Buenos Aires die Statue von Kolumbus im Jahr 2015 abreißen ließ und an ihrer statt ein Monument zu Ehren der Befreiungskämpferin Juana Azurduy de Padilla errichtete, lässt sich als eine Kontinuität des Unbehagens deuten, das das erinnerungspolitische Erbe von Kolumbus und da Gama außerhalb Europas hinterließ. Auch die Feierlichkeiten zum 500-jährigen Jubiläum der Entdeckung des Seewegs nach Indien wurden in Portugal zwar mit einer Weltausstellung gekrönt und boten dem Land die Gelegenheit, sich weltweit als Entdeckernation zu inszenieren, doch die Bezüge zu da Gamas Fahrt mussten nun subtiler erfolgen: Die gewählte Thematik der Ozeane ließ zwar Anspielungen auf das Imperium des Orients zu, legte jedoch den Schwerpunkt auf die ökologischen Herausforderungen der Meere in der Gegenwart.

In europäischen Städten führte das Unbehagen gegenüber dem kolonialen Erbe nicht zum Abriss von Monumenten der Entdecker. Zwar hatten sie in der Nachkriegszeit deutlich an Bedeutung eingebüßt, sodass etwa die Statuen Magellans und Cooks auf der Kornhausbrücke in Hamburg, die während der Bombenangriffe zerstört worden waren, nicht wiederhergestellt wurden. Doch die Darstellungen von Kolumbus und da Gama blieben nicht nur erhalten, sondern wurden sogar in einem aufwendigen Prozess renoviert – pünktlich zum 800. Geburtstag des Hamburger Hafens. Das Überleben der Erinnerungsorte Kolumbus und da Gama außerhalb Spaniens, Portugals und Italiens unterstreicht, wie sehr sie heute noch der Stabilisierung lokaler Identität dienen, vor allem in Hafenstädten wie in Hamburg oder in Bremerhaven. Dass die Aneignung der Entdecker dabei nicht im Widerspruch zu einer modernen, kolonialkritischen europäischen Identität stehen muss, zeigt das Bespiel Bremerhaven. Anlässlich des 500-jährigen Jubiläums der Entdeckung Amerikas brachte die Stadt eine Tafel direkt vor dem Kolumbus-Denkmal an, in der mahnend auf die verheerenden Folgen dieser Entdeckung verwiesen wird.

Der Blick auf die historische Entwicklung der Erinnerungsorte Kolumbus und da Gama in Europa ergab – wie könnte es anders sein? – ein kaleidoskopartiges Bild vieler Europas im Ringen mit einer kollektiven Identität auf lokaler, nationaler und supranationaler Ebene. Das erste Entdeckungszeitalter löste sich bereits im 16. Jahrhundert aus den nationalen Narrativen Portugals und Spaniens, um als historischer Meilenstein europäischer Geschichte zu fungieren. Die Bedeutung der ersten Entdeckungsreisen schien in der Aufklärung ungebrochen, war dies doch das Zeitalter der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Vermessung und Aneignung der Welt. Das Aufkommen des Nationalismus und des imperialen Kolonialismus im 19. Jahrhundert brachte eine andere Dimension der europäischen Aneignung der Entdeckungsgeschichte mit sich.

Das Denkmalfieber der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergriff aber nicht nur Portugal, Spanien oder Italien, sondern erstreckte sich auch auf weitere europäische Staaten. Dabei zeigte sich, dass das Bemühen, die Entdeckungen erinnerungspolitisch umzusetzen, auch aus Staaten kam, die zwar keinen direkten Bezug zum Entdeckungszeitalter besaßen, aber wie Deutschland und Österreich am neuen Welthandelssystem partizipierten. Christoph Kolumbus und Vasco da Gama standen insofern im Dienst einer kumulativen europäischen Erinnerungskultur, denn beide Heroen erlaubten im Zeitalter des Nationalismus eine Aneignung der kolonialen Expansion für die Konstruktion kollektiver Identität auch in Ländern, die erst spät oder nicht direkt am Kolonialismus teilhatten. Im europäischen Einigungsprozess verblassten die imperialistischen Töne und mit ihnen die Bedeutung Kolumbus’ und da Gamas auf europäischer Ebene. Die Bemühungen um eine europäische Identität setzen auf die historischen Epochen und Heroen, aus denen die Wertegemeinschaft ihr Selbstverständnis speisen kann: die Antike, die Renaissance, die Aufklärung und – ex negativo – die Kriege, Totalitarismen und der Holocaust im 20. Jahrhundert. Die Ambiguität der europäischen Expansion – deren Folgen noch heute in den Asymmetrien der Welt ablesbar sind – verhindern sowohl einen enkomiastischen als auch einen aufgeklärt kritischen Umgang mit dieser Epoche: Christoph Kolumbus und Vasco da Gama bleiben einstweilen im Lagerraum europäischer Erinnerungsorte.

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