Читать книгу Europa - Группа авторов - Страница 57
Der Greenwich-Meridian
ОглавлениеEine viel verzwicktere Angelegenheit beim Zurechtfinden auf den Weiten der Ozeane stellte hingegen das Längengradproblem dar. Zur exakten Bestimmung des Längengrades, also der gedachten Linie von Pol zu Pol, muss der Navigator wegen der Erdrotation die genaue Zeit eines irgendwo festgelegten Nullmeridians kennen. Aber die Zeitbestimmung eines mitunter weit entfernten Ortes ist nur durch aufwendige, sehr komplizierte astronomische Beobachtungen möglich – an denen sich auch Galileo Galilei (1564–1642) schon vergeblich versucht hatte – oder eben durch eine mitgeführte sekundengenaue Uhr. Doch die schon etwas länger auf Schiffen verwendeten Sanduhren konnten diese Genauigkeit trotz penibel eingehaltener Wachwechsel nicht liefern. Und das war schon vielen Seefahrern zum Verhängnis geworden, die sich östlicher oder westlicher entgegen ihrer tatsächlichen Position wähnten und deshalb an felsigen Untiefen scheiterten. Das heißt: Ohne einen genau gehenden Chronografen an Bord und der damit ermittelbaren Vergleichszeit zu einem Ausgangshafen konnte der Längengrad unmöglich präzise bestimmt werden. Doch stellten der Seegang sowie die hohen Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen lange unüberwindbar scheinende Hindernisse für die mechanischen Konstruktionen von Schiffschronografen dar.
Mit der durch König Karl II. 1675 initiierten Gründung eines Königlichen Observatoriums in Greenwich, das in deutlicher Konkurrenz zu dem schon acht Jahre zuvor von Ludwig XIV. gegründeten Observatorium von Paris stand, vollzog England einen wichtigen Schritt auf der Suche nach Möglichkeiten präziser Längenbestimmungen. Das ganze 18. Jahrhundert hindurch hatte man hier ein hohes Preisgeld von 20.000 Pfund zur Lösung des Längengradproblems ausgesetzt, das eine sogenannte Längenkommission, Board of Longitude, verwaltete, der die damals bedeutendsten Astronomen und Mathematiker Englands angehörten. Der geradezu geniale englische Tischler John Harris (1693–1776) konstruierte mehrere Präzisionsuhren – eine davon tatsächlich aus Holz – und legte die Grundlage zur Lösung des Problems. Als James Cook 1775 von seiner zweiten Weltreise, auf der auch Georg Forster mit an Bord gewesen war, wieder in englische Gewässer einlief, konnten die Logbucheintragungen die Präzision einer jener Versuchsuhren belegen, die eine exakte Kopie von Harrisons Exemplar von 1759 darstellte. Erst jetzt war für die meisten Astronomen endlich das Längenproblem vom Kartentisch. Und erst ab jetzt wussten britische Kapitäne und später auch Seefahrer anderer Länder wirklich genau, wo sie sich in der Weite der Ozeane überhaupt befanden. Eine Reihe weiterer Instrumente traten Kompass und Winkelmessern zur Seite und versetzten die europäischen Seefahrer in die Lage, mathematisch präzise zu navigieren und damit auch jeden Punkt auf der Erde wiederzufinden.
Natürlich war Navigationswissen immer auch Geheimwissen und nicht jedem Seefahrer zugänglich. Eifersüchtig hüteten nationale Seefahrtbehörden auch noch so kleine Wissensvorsprünge gegenüber fremden Interessenten. Und so, wie die Handelsgesellschaften und die nationalen Marinen in einem Konkurrenzverhältnis zueinander standen, so gab es ebenfalls einen Wettstreit der Astronomen und Kartografen. Schon allein die natürlich völlig willkürliche Festlegung, wo der Nullmeridian liegen solle, also von wo aus der Seefahrer östliche oder westliche Breitengrade berechnen kann, hat mit Deutungshoheiten zu tun, die nationale Konkurrenz als auch die Machtrelationen spiegeln. Seit der Antike bezogen sich viele Berechnungen und Karten auf den sogenannten Meridian von Ferro als Nulllinie, gelegen auf der Kanareninsel El Hierro als dem lange als westlichsten Ort der Welt angesehenen Punkt. Noch 1634 kam eine Gelehrtenversammlung der wichtigen seefahrenden Nationen zu der Empfehlung, den Ferro-Meridian der Insel als Nullmeridian weiterhin zu nutzen. Doch, weil Frankreich ab 1718 den Meridian vom Observatorium in Paris, England ab 1738 den Meridian vom Observatorium in Greenwich als Nulllinie anwandte, andere jedoch beim Ferro-Meridian blieben – wie etwa Österreich-Ungarn bis 1918 –, kam es zu einer buchstäblichen Konkurrenz der Längengrade und den damit verbundenen Verwirrungen beim Vergleich nautischer Angaben. Erst mit einer 1884 in Washington abgehaltenen „Meridian-Konferenz“ kam Ordnung in das Durcheinander der gedachten Nulllinien. Die britische Seehegemonie dieser Zeit zeigte sich nun auch auf diesem Gebiet, denn gegen französischen Widerstand wurde der Greenwich-Meridian als international verbindliche Nulllinie festgelegt.