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Entdeckungen und Erinnerungen
ОглавлениеDie Episode illustriert, wie kompliziert das Verhältnis von tatsächlichen Forschungsleistungen bei der Erfassung der Welt und den jeweiligen damit verknüpften Erinnerungen daran ist. Einerseits kann ein Entdecker mit den meisten je zurückgelegten Seemeilen als solcher fast vergessen werden, andererseits kann jemand mit dem Beinamen „der Seefahrer“ in die Geschichte eingehen, ohne je längere Fahrten auf dem Deck eines Schiffes zurückgelegt zu haben, wie der Fall des portugiesischen Königssohnes Heinrich der Seefahrer (1394–1460) belegt. Die Welt der europäischen Expansion war und ist zugleich auch immer eine Welt der Erinnerung und der Deutungshoheit, nicht nur, weil Entdecker den für den eigenen Kulturkreis neuen Landstrichen oder Inseln Namen geben konnten, sondern, weil zu fragen ist, was bedeutete überhaupt „entdecken“? Reichte es, in bestimmte Regionen zu gelangen? Haben jene Skandinavier auf Vikingfahrt, die um 1000 unter Leif Eriksson (um 970–1020) die Küste Nordamerikas erreichten, Amerika auch „entdeckt“? Was gab es eigentlich an den Nilquellen zu entdecken, da bei den afrikanischen Völkern in den Ursprungsregionen des Weißen oder Blauen Nils deren Quellflüsse ja bekannt waren? Entdecken, so ist offensichtlich, bedeutet also mehr. Es bedeutet zunächst, an Land zu gehen und es zu vermessen. Es bedeutet aber dann, den größeren geografischen Zusammenhang zu erkennen und vor allem das neu Gesehene und Betretene dem Erkenntnis- und Gliederungshorizont der eigenen Kultur einzupassen. Was sich dann an Wechselwirkungen zwischen den alten bekannten und den neuen, eben „entdeckten“ Kulturkreisen entwickeln kann, darf als ein weiterer Schritt bei der Durchdringung der Welt gelten.
Wenn es erinnerungsgeschichtlich fast unerheblich zu sein scheint, worin Entdeckertaten tatsächlich bestanden, dann ist es offenbar wichtiger, wer sich an sie erinnert und warum. Das kann zum einen bedeuten, dass bestimmte Landstriche bis hin zu ganzen Kontinenten Namen tragen, die mit ihrer geografischen Beschreibung zu tun haben. Andererseits haben sich Namen manchmal auch von ihren einstigen Trägern und deren Taten losgelöst. Ist im öffentlichen Bewusstsein heute überhaupt noch präsent, wer Amerigo Vespucci (um 1452–1512) eigentlich war, was er bereist und erforscht hat und dass der gebürtige Florentiner der Namenspatron für Amerika ist? Und wem ist schon geläufig, dass es doch eher einem Zufall zu verdanken ist, dass 1507 der Kartograf Martin Waldseemüller (um 1472–1520) den neu entdeckten Ländern im fernen Westen den Namen „America“ gab?
Wie verhält es sich erinnerungsgeschichtlich mit anderen großen und bedeutenden Entdeckern? Der aus Genua stammende Cristoforo Colombo (um 1451–1506), der in spanischen Diensten unintendiert dem alten Europa das neue Amerika eröffnete, dürfte mit seinem Namen wohl eine Scheidelinie bezeichnen, die eine Epoche der Isoliertheit der Alten und Neuen Welt von einer bis heute andauernden Durchdringung beider markiert. Doch der von Kolumbus erreichte Doppelkontinent trägt einen anderen Namen. Und dass das Land Kolumbien oder der Mondkrater Colombo mit seinem Namen bezeichnet werden, kann nur als schwacher erinnerungsgeschichtlicher Ersatz für die Bedeutung seiner Entdeckungsreisen gelten.
Ebenso erging es dem aus Portugal stammenden Ferdinand Magellan (1480–1521), der 1519 im Auftrag der spanischen Krone die erste Weltumsegelung begann. Zwar wurde er im Verlauf der Reise getötet und konnte die Umrundung nicht vollenden. Dennoch kann im Vergleich zu dessen Bedeutung die Benennung der zwischen dem südamerikanischen Festland und der Insel Feuerland liegenden Meerenge, die den Atlantischen Ozean mit dem Pazifik verbindendet, als Estrecho de Magallanes, als Magellanstraße, nur als ein unadäquater Erinnerungseintrag gelten.
Dagegen müsste Alexander von Humboldt (1769–1859), gemessen jedenfalls an den nach ihm entlehnten geografischen und biologischen Namen, als der wichtigste Entdecker aller Zeiten gelten. Nach ihm sind mindestens 19 Tierarten, 17 Pflanzen und Pilze, 35 geografische Orte, darunter etwa der Humboldtstrom, sowie viele Bildungs- und Forschungseinrichtungen benannt worden. Der als „wissenschaftlicher Wiederentdecker Amerikas“ erinnerte und als „neuer Aristoteles“ bezeichnete Forscher, wie eine Gedenkmünze der Pariser Akademie der Wissenschaften ihn nennt, hat damit hinsichtlich der Erinnerungseinträge spielend Kolumbus, Magellan oder Cook überblendet. Das zeigt: Erinnerungstechniken können eine materielle Kraft erlangen, die weit über die Wirkung der tatsächlichen Ereignisse hinausreicht.