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Die Kraft der Technologie
ОглавлениеDoch genauso wichtig wie die Frage nach den Wirkungszusammenhängen von Memorialstrategien und Erinnerungstechniken für die Beurteilung der Weltdurchdringung aus europäischer Sicht ist jene nach den technologischen Grundbedingungen dafür: Warum konnte gerade Europa überhaupt diese Kraft entfalten, die nach wenigen Jahrhunderten die gesamte Welt in unterschiedlichste Abhängigkeiten zu dem zweitkleinsten aller Kontinente gebracht hat? Welche Rahmenbedingungen waren – neben jenen ökonomischen Prozessen und Impulsen, die mit den hier nur grob angedeuteten Stichworten wie etwa der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals, der Rolle des Seeraubs oder der Entwicklung von Aktiengesellschaften einhergingen – dafür nötig? Oder noch präziser: Gab es neben den ökonomischen Grundbedingungen ein technologisches Wissen, warum gerade europäische Mächte so erfolgreich die Welt durchfahren und im Gefolge größtenteils unterwerfen konnten? Die klare Antwort: Ja, es gab sie, die technischen Besonderheiten und Ansammlungen von Spezialwissen, die die europäische Expansion überhaupt erst ermöglichten. Doch wird bei genauerer Betrachtung auch klar, dass einige der Rahmenbedingungen wie etwa Spezialkenntnisse und Fähigkeiten in der Navigation oder bestimmte technische Entwicklungen nur im Verbund mit anderen Bedingungen synergetisch gewirkt haben, als Einzelphänomene aber ohne weitere welthistorische Auswirkungen blieben.
Dazu zwei Beispiele: Das erste Exempel betrifft die Seefahrtskunst der Polynesier, die mit bis heute rätselhaft anmutenden Navigationstechniken auf ihren Auslegerkanus die über 10.000 Inseln des Pazifischen Ozeans – immerhin die Hälfte der Meeresfläche der gesamten Welt – anzusteuern vermochten. Doch ohne weitere „Zutaten“ wie etwa den ökonomischen Wirkmechanismus des Fernhandels oder die Ausprägung technischer Fertigkeiten für den Bau größerer Schiffe bleibt bei aller Bewunderungswürdigkeit von den Orientierungskünsten nur eines übrig, nämlich ein Wissen, wie man Nadeln im Heuhaufen wiederfindet, mehr nicht. Eine Auswirkung auf andere historische Prozesse blieb diesem Navigationswissen mithin versperrt.
Das zweite Beispiel liefert China, das sich im Spätmittelalter zu einer führenden Seemacht zu entwickeln begann und urplötzlich aber keine solche mehr sein wollte. Am Beginn der Ming-Dynastie hatte zwischen 1405 und 1433 der chinesische Admiral Zhèng Hé (1371–1433/35) mit großen Flotten hochseetüchtiger Dschunken weit ausgreifende Expeditionen in den Pazifik und den Indischen Ozean unternommen. Doch aus noch immer nur schemenhaft erkennbaren Gründen zog sich China durch kaiserlichen Befehl konsequent vom Meer zurück und die schiffsbautechnisch sowie nautisch enorm hoch entwickelten Seetraditionen des Reichs der Mitte brachen wieder ab. Lag einer der Gründe darin, dass sich das Riesenreich selbst genügte? Ohne diesen Rückzug von der See jedenfalls hätte China seine Seeherrschaft sicher kontinuierlich weiter ausgebaut und in den ostasiatischen Gewässern wohl kaum Platz für Portugiesen oder Holländer gelassen. In Europa hingegen gab es keine Macht oder Autorität, die die vielfältigen europäischen Seeaktivitäten hätte stoppen können. Selbst wenn Portugiesen, Holländer oder Engländer von einem Tag zum anderen beschlossen hätten, fortan Landratten zu werden, dann wären andere Seefahrtgemeinschaften, egal ob Nationen oder Gesellschaften, umso energischer in diese Lücke hineingesegelt. Es müssen also verschiedene Rahmenbedingungen zusammentreffen, um überhaupt ihre Bedeutung entfalten zu können. Und noch zugespitzter formuliert: Im Grunde haben erst Rivalität und Konkurrenz zwischen den einzelnen europäischen Mächten und Ländern das enorme Potenzial sowohl für die Entdeckungsfahrten als auch für die letztendliche Eroberung der Welt zu entfesseln vermocht. Und das sollte zudem in den jeweiligen nationalen Erinnerungen Europas eine besondere Bedeutung bekommen.
Diese produktive Rivalität zeigte sich zunächst im Wettstreit der Entdecker, die in den meisten Fällen im Auftrag eines Herrschers oder eines Landes aufgebrochen waren. Schien es anfangs wie etwa bei den portugiesischen oder spanischen Monarchen noch zu genügen, die besten verfügbaren Seefahrer – egal, woher sie kamen – für die Durchsetzung der eigenen Interessen zu rekrutieren, so trat bald eine nationale Komponente hinzu. Im Prestigewettstreit wurde es nun den europäischen Königen immer wichtiger, dass es einer ihrer eigenen Untertanen und eben kein angeheuerter „Ausländer“ war, der einen bestimmten Punkt als Erster erreichte, ihn erforschte oder ganz in Besitz nahm. Louis Antoine de Bougainville (1729–1811) etwa erhielt 1766 den Auftrag von König Ludwig XV., als erster Franzose die Welt zu umsegeln. Seine von 1767 bis 1769 dauernde Reise fiel aber genau in jene Zeit, da auch der Engländer James Cook aufbrach, um britische Ansprüche in fernen Gewässern anzumelden. Von dessen Südseereisen ließ sich nun wiederum der französische Seefahrer Jean-François de La Pérouse (1741–1788) inspirieren. Er stach in königlichem Auftrag 1785 in See und kam 1788 in diesen Gewässern wie einst Cook sogar um.
Solche Beispiele von sich gegenseitig anstachelnder Konkurrenz zwischen den europäischen Seemächten und ihren Kriegsmarinen ließen sich reichlich finden. Doch spiegelte dieser Wettstreit im Grunde nur jenen Gegensatz, den es ohnehin zwischen den Handelsmarinen und vor allem zwischen den Handelsgesellschaften wie etwa den Ostindischen Kompagnien und deren Profitinteressen gab. Und da es dabei um sehr, sehr viel Geld ging, war man entsprechend radikal in den Maßnahmen der Gesetzgebung und Gewaltanwendung für den eigenen Vorteil. Die englischen Navigation Acts aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts etwa bestimmten in überaus restriktiver Weise, dass Waren nach England einzig auf englischen Schiffen transportiert oder Güter der eigenen Kolonien nur über das Mutterland exportiert werden durften. Da die holländischen Schiffe, die bis dahin als Fuhrleute Europas galten, sich nicht so leicht aus dem lukrativen Handelsgeschäft drängen lassen wollten, mussten die Kanonen sprechen. Und das taten sie auch reichlich in den drei kurz hintereinander folgenden Englisch-Niederländischen Seekriegen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.
Doch zunächst: Woher stammte das europäische Know-how von der See? Das europäische Wissen von der Seefahrt speiste sich aus vielen Quellen. Die wichtigste dürfte neben den Seetraditionen Skandinaviens und der Hanse das Mittelmeer darstellen, dessen Anrainer in den Jahrhunderten seit der Antike große Erfahrungen gesammelt hatten, sich in Schiffen zielsicher zu bewegen. Und obwohl das Mittelmeer seit der Entdeckung der Neuen Welt und des Seewegs nach Indien mehr und mehr zu einem Binnenmeer wurde, haben einige italienische Seestädte, allen voran Venedig, wie Arne Karsten in seinen Untersuchungen zur Seemetropole darlegt, sowohl weiter nautisches Wissen akkumuliert als auch Wirtschafts- oder Handelsmechanismen entwickelt, die dann von den transozeanischen Seefahrern erfolgreich genutzt werden konnten. Es mag Zufall sein, dass Kolumbus aus Genua stammte. Kein Zufall hingegen war es, dass Italiener aus den Seestädten des Mittelmeeres einen so großen Beitrag beim Ausgreifen der Europäer auf die Ozeane beizusteuern in der Lage waren. Der Aufbruch zu den Ozeanen brachte allerdings wie schon zuvor die osmanische Eroberung Konstantinopels eine sukzessive erfolgende Verlagerung der wichtigsten Handelswege mit sich und ließ dadurch alte See- und Wirtschaftsmächte wie eben Venedig oder Genua an Bedeutung verlieren. Im Gegenzug bildeten sich aber neue Kraftzentren des Welthandels wie etwa Portugal, Spanien, die Niederlande, England oder Frankreich, die nun selbst wiederum immenses Wissen über die Seefahrt akkumulierten und bedeutende Innovationen dafür generierten.
Die Ersten, die von dem alten Wissen aus der Mittelmeerseefahrt profitierten, waren die Portugiesen. Sie erweiterten im 15. Jahrhundert mit den seinerzeit verbreiteten Schiffstypen der Karavelle und Karacke, auch Nao genannt, nicht nur den nautischen Horizont für Seeverbindungen nach Asien, sondern die „gekrönten Kapitalisten“, wie deren Monarchen später charakterisiert wurden, schufen zugleich auch ein System von Stützpunkten auf dem Seeweg nach Indien, um die gewaltigen Handelsprofite zu sichern und effektiv abschöpfen zu können. Die märchenhaften Reichtümer des Ostens reizten auch das durch die Vereinigung von Kastilien und Aragon noch junge Spanien, doch mussten der iberische Rivale Portugals – seit 1494 in Tordesillas vertraglich geregelt – eigene Anstrengungen nach Westen ausrichten. Die Inbesitznahme großer überseeischer Gebiete in der Neuen Welt und deren ökonomische Verwertung schufen somit Grundbedingungen, die die Zeitspanne zwischen 1550 und 1660 aus der Rückschau sogar zu einem spanischen Siglo de Oro werden ließen.