Читать книгу Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik - Группа авторов - Страница 88
C Mehrkulturalität in einer multilingualen und multikulturellen globalisierten Welt 15. Bildungspolitische Perspektiven auf Mehrkulturalität 1. Der Begriff MehrkulturalitätMehrkulturalität im gesellschaftlichen Kontext
ОглавлениеIn Analogie zu gesellschaftlicher Vielsprachigkeit (Multilingualism) und individueller MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit (Plurilingualism) lässt sich auch Mehrkulturalität einerseits als Zustand einer Gesellschaft (oft: MultikulturalitätMultikulturalität) und andererseits als Verfasstheit oder auch Kompetenz des Individuums, als individuelle Mehrkulturalität (oft: InterkulturalitätInterkulturalität), verstehen – und in diesem Zusammenhang ist Mehrkulturalität dann auch Zielsetzung von Erziehung. In der bildungspolitischen Debatte werden die genannten Begriffe aber keinesfalls konsequent unterschieden. In der deutschsprachigen Diskussion dominiert Interkulturalität, vor allem wenn es um die Beschreibung von Lernzielen und Kompetenzen geht (↗ Art. 32, 43). Allerdings wird der Begriff InterkulturalitätInterkulturalitätBegriff inzwischen auch skeptisch gesehen, da hier zu stark das Gegenüber zweier Kulturen, Eigenes und Fremdes, im Fokus stünden und die komplexe Interrelation dadurch zu stark vereinfacht werde (Albrecht 2003: 236-237). Hier setzen Konzepte und Begriffe an, die davon ausgehen, dass die Gegenwart nicht durch solche einfachen Gegenüberstellungen oder eine additive Agglomeration, sondern durch eine komplexe Mischung von Sprachen und Kulturen gekennzeichnet ist, die sich nicht isolieren lassen, sondern neue Formen hervorbringen: TranskulturalitätTranskulturalität, DiversitätDiversität, Heterogenität und Superdiversität (↗ Art. 41). All diese Begriffe zielen auf Gesellschaften, in denen verschiedene Kulturen nebeneinander, im günstigen Fall auch miteinander existieren und sich eventuell auch neue Formen der Mischung ergeben. Blell und Doff sehen Mehrkulturalität als einen diese verschiedenen Facetten bündelnden Oberbegriff: „Er bildet in diesem Kontext eine breite Klammer für InterkulturalitätInterkulturalität, Transkulturalität sowie Mehrkulturalität im engeren Sinne“ (Blell & Doff 2014: 2). Dazu bedarf es eines Kulturbegriffs, der die trotz der Anerkennung von Multikulturalität fortbestehende homogenisierende Orientierung an nationalen oder ethnischen Gruppen überwindet und Kultur als Verfügung über kulturelle Deutungsmuster versteht (↗ Art. 1), wobei dann Mehrkulturalität impliziert, dass solche Deutungsmuster nicht mehr fraglos vorausgesetzt, sondern jeweils neu ausgehandelt werden müssen (vgl. Altmayer 2010: 1004-1009).
Byram (2000: 51ff.) spricht in diesem Sinne von „multikulturellen Milieus“ einerseits und von Mehrkulturalität im Sinne von „interkulturell-seininterkulturell-sein“ andererseits. Er betont zwei Wege zu dieser Mehrkulturalität: Zum einen bilde sie sich als Konsequenz des Zusammenlebens in einem multilingualen Milieu, zum andern sei sie ein wichtiges Ziel und Ergebnis von Sprachenlehren und Sprachenlernen. Dabei geht es zum einen um die zu erwerbenden Kompetenzen des ‚interkulturellen Sprechers/Hörers‘, zum andern um Einstellungen (Byram: 2000: 53), d.h. der Begriff zielt auf Menschen, die nicht nur durch eine kulturelle Tradition geprägt oder dieser verbunden sind, sondern sich verschiedenen Kulturräumen zugehörig fühlen und sich damit jenseits eindeutiger nationaler und/oder kultureller und/oder sprachlicher Zuordnungen bewegen. Christ (posthum 2015: 116) betont in besonderem Maße Mehrkulturalität als Teil der Biographie: „Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität als Fähigkeiten manifestieren sich als soziale Praxen: Sie entwickeln sich in Interaktion mit anderen“.
Auch wenn immer wieder betont wird, Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität seien „im europäischen Bildungsdiskurs fest verankert (…) und längst zu theoretischen Bezugspunkten für das Lehren und Lernen von Sprachen geworden“ (Schädlich 2009: 91), so gilt das im Grunde nur für die Mehrsprachigkeit. Zwar werden Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität oft in einem Atemzug genannt bzw. als unmittelbar mit einander verknüpft gesehen wie z.B. im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeR) (Europarat 2001: 17). Aber in der Konkretisierung geht es dann in der Regel, auch im GeRGeR (↗ Art. 18), um Mehrsprachigkeit, ohne dass das Entstehen von und der Umgang mit Mehrkulturalität zum Thema wird. Und obwohl Mehrsprachigkeit als eine Basis des interkulturellen Dialogs (↗ Art. 33, 103, 104) und der interkulturellen Verständigung gilt (Schwan 2004), gibt es keinen Automatismus, nach dem MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit InterkulturalitätInterkulturalität notwendig hervorbringt oder garantiert; auch Fremdsprachenunterricht ist oft monokulturell angelegt und kann auch vorhandene Stereotypen (↗ Art. 34) verstärken (vgl. Schulze 2010).