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3. Forschungsstand

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Die Erziehungswissenschaft hat sich seit der Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer für den deutschen Arbeitsmarkt in den 1960er Jahren verstärkt mit der Migrantenthematik befasst. Ihr Fokus galt zuerst der Beschulung von ausländischen Kindern und Jugendlichen, deren Muttersprache und Herkunftskultur im Gastland Deutschland mitgefördert werden sollten, damit sie bei Rückkehr ihrer Eltern in die Heimat dort keine Nachteile haben würden (AusländerpädagogikAusländerpädagogik). Als die Rückkehr ausblieb, formulierte die Erziehungswissenschaft eine Pädagogik der VielfaltPädagogik der Vielfalt aus, die im Miteinander von Kindern und Jugendlichen verschiedener Kulturen einen MehrwertMehrwertaus Migration für beide Seiten sah (↗ Art. 32). Konsequenterweise führte diese pädagogische Umorientierung zur IntegrationspädagogikIntegrationspädagogik und zum interkulturellen Lernen, das bei Wertschätzung der fremden Sprachen und Kulturen und durch die Begegnung von Einheimischen und Zugewanderten im gemeinsamen Schulunterricht wechselseitig befruchtende Effekte erwartet. Belastbare empirische Befunde liegen dazu bisher nicht vor.

Anders bei der EnkulturationsfunktionEnkulturationsfunktion von Schule der Schule, einer Erwartung der Gesellschaft an ihre pädagogischen Institutionen (KindergartenKindergarten, Schule, pädagogische/sonderpädagogische Einrichtungen). Hier ist der Forschungsstand besser elaboriert. Der pädagogische Begriff „Enkulturation“ (↗ Art. 4) richtet den Blick auf die „Einbindung“, auf das funktionale, aber auch das intentionale „Hereinwachsen“ der Kinder und Jugendlichen in die kulturellen Lebensformen des Raumes, in dem sie ansässig werden wollen (Weber 1999: 82ff.). In der multikulturellen Gesellschaft umfasst die Enkulturation auch die Kinder und Jugendlichen mit MigrationshintergrundMigrationshintergrund. Enkulturation steht in enger Verbindung mit „AkkulturationAkkulturationAkkulturationEnkulturation“, einem terminus technicus der Soziologie und der Psychologie. Die Akkulturation richtet den Blick vorwiegend auf die Angehörigen einer Minderheitenkultur und deren Verhalten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft (vgl. Kopp & Schäfers: 9ff.), das seit W. Berrys Modell (1990: 232ff.) den Strategien AssimilationAssimilation, IntegrationIntegration, SegregationSegregation und MarginalisierungMarginalisierung folgen kann. Im Vordergrund stehen heute im Anschluss an Berry bidimensionale und mehrebenenanalytische Modellemehrebenenanalytische Modelle, mit deren Hilfe kulturelle und psychologische Veränderungen auf Grund von Interaktionen zwischen kulturell unterschiedlichen Gruppen in unterschiedlicher Intensität feststellbar werden. Aus soziologischer Perspektive lassen sich InklusionInklusion/Exklusion und Exklusion der Angehörigen einer Minderheitenkultur, d.h. deren soziale Integration (↗ Art. 38), in folgenden Formen beobachten: KulturationKulturation durch Erwerb zusätzlicher Wissensbestände, Kompetenzen und instrumentellen Fertigkeiten der Aufnahmegesellschaft, Strukturelle Platzierung durch Bildung, Beschäftigung und Verfügen über ökonomische Ressourcen in der Aufnahmegesellschaft, Soziale Interaktion durch Bildung persönlicher Netzwerke, HeiratenEhezwischen heterokulturellen Personen und Verwandtschaftsbeziehungen in der AufnahmegesellschaftVerwandtschaftsbeziehungen in der Aufnahmegesellschaft sowie Emotionale Identifikation in der Form, dass die WerteWerte der Aufnahmegesellschaft übernommen werden und eine Solidarisierung mit dieser geschieht (Nauck 2008: 113f.). Der Akkulturationsforschung entnimmt die erziehungswissenschaftliche Enkulturationstheorie wichtige Impulse.

Erziehung und Bildung zielen auf die Persönlichkeitsentwicklung der Heranwachsenden und implizieren Versuche der Einstellungs- und VerhaltensänderungEinstellungs- und Verhaltensänderung, wenn das Handeln und Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit den gesellschaftlich akzeptierten NormenNormen, Werten und Rechtsvorschriften kollidiert. In der Erziehungswissenschaft wird jeder Versuch, durch Erziehungs- und Bildungsbemühungen Einfluss auf das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln eines Menschen zu nehmen, als Lernprozess gesehen, bei dem durch Beratung, durch Gruppentherapie, durch Konditionierungen und durch kognitive Strategien ein Prozess des Umlernens in Gang gesetzt werden soll (Mazur 2006: 101ff.). Bei Kindern und Jugendlichen mit MigrationshintergrundMigrationshintergrund, die in einem anderen KulturraumKulturraum aufgewachsen sind, muss mit angeborenen Verhaltensmustern und Habituationen gerechnet werden, die durch den Spracherwerb und die Sozialisation bedingt sind (Franceschini 2002: 54ff.). Die Erziehungswissenschaft greift hierzu auf die neurowissenschaftlichen Studien zur vor- und nachgeburtlichen Plastizität des Gehirns zurück (Merlin 1991; Neville & Bavelier 2002). Das Ergebnis dieser Forschungen lässt sich mit den Worten Merlins wie folgt zusammenfassen: „The brains of many individuals in a particular culture are broadly programmed in a specific way, while in other cultures they may develop differently.” (1991: 13) Diese neuronale Kulturspezifizitätneuronale Kulturspezifizität bezieht sich nachgewiesenermaßen auf die raumzeitliche Wahrnehmung, die Vorstellungsbilder, die Weltsichten und Wertsetzungen, das (logische) Denken und die Problemlösungen, das Verstehen, die verbale und nonverbale KommunikationKommunikationverbale (↗ Art. 33, 103), das Fühlen, die Formen sozialer Beziehung, die Bräuche und Riten, Normen und Tabus und natürlich die Sprache (Maletzke 1996: 42). Es erfolgt dadurch eine kulturelle Prägungkulturelle Prägung, an deren Zustandekommen und Verfestigung die erfahrene kulturelle SozialisationSozialisation (↗ Art. 4) entscheidenden Anteil hat, die das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln des Einzelnen in den Kontext eines Gemeinschaftsdenkens, -fühlens,- wollens und -handelns stellt, was ihm in seiner Kultur eine soziale Identität verleiht. Allerdings geschieht die Sozialisation, d.h. der Austausch zwischen den Generationen, immer auch als Ko-Konstruktion des Individuums, das seine Persönlichkeit auf Grund der sozialen und kulturellen Lebenskontexte durchaus auch mitgestaltet, so dass die Prägung nicht bei allen Individuen immer gleich ausgebildet ist.

In der Erziehungswissenschaft führen diese Forschungsergebnisse zur Forderung nach einer kulturellen Sensibilisierung pädagogischer Institutionen. Im Sinne eines sozialen oder pragmatischen Konstruktivismus, der die Erziehungswissenschaft seit zwei Jahrzehnten theoretisch fundiert, geschieht das Verändern von Einstellungen und Verhaltensweisen auch bei Kindern und Jugendlichen mit fremdkulturellen Prägungen als ein subjektiv-biographischer Lernprozess, der Elemente der selbsttätigen Bedeutungskonstruktion im neuen kulturellen Raum ebenso enthält wie solche der Rekonstruktion von Sinn, der in diesem vorherrscht, und solche der Dekonstruktion bisheriger Überzeugungen und Gewissheiten (vgl. Reich 2010).

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