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2. Deskriptoren für Mehrkulturalität
ОглавлениеMit dem Konzept der europäischen Bürgerschaft / democratic citizenshipcitizenshipdemocratic hat der Europarat (↗ Art. 9) ein Rahmenkonzept formuliert, das Bürger befähigen soll, in multikulturellen Gesellschaften tolerant und in gegenseitigem Verständnis zu leben: „Democratic citizenship is about inclusion rather than exclusion, participation rather than marginalisation, culture and values rather than simple procedural issues“ (Starkey 2009: 8). In zwei im Kontext des Europarats entstandenen Projekten wurde in jüngster Zeit versucht, die hier aufgerufenen Kompetenzen zu beschreiben:
1 Der „Referenzrahmen für plurale Bildung zu Sprachen und Kulturen“ (RePARePA) (Candelier et al. 2009) zielt auf sprachenübergreifende Kompetenzen, die ein integriertes interkulturelles Lernkonzept in Form von Deskriptoren präzisieren, so z.B. „Kompetenz zum PerspektivenwechselPerspektivenwechsel“, „Kompetenz, dem sprachlich und/oder kulturell Unvertrauten einen Sinn zu geben“. Dabei verzichtet der RePA (↗ Art. 20) auf eine strenge, abprüfbare Hierarchisierung im Sinne der Niveaustufen des GeRKompetenzniveaustufen nach GeR (↗ Art. 18), die Abstufung betont stärker den Zusammenhang und Übergang, ebenso wie das Ineinandergreifen von sprachlichen und kulturellen Kompetenzen. Zwar klingt gelegentlich auch hier die vereinfachte Vorstellung von zwei einander quasi gegenüberstehenden Kulturen an, indem die Unterschiede zwischen „der eigenen Kultur und anderen Kulturen“ (K-92) hervorgehoben werden, insgesamt aber geht der RePA davon aus, dass sich kulturelle Wahrnehmungen erst in der Interaktion herausbilden und mit Hilfe von Sprache Bedeutungen ausgehandelt werden können.
2 Mit einem „Companion VolumeCompanion Volume“ hat der Europarat u.a. für den im Referenzrahmen ausgesparten Bereich der ‚plurikulturellen Kompetenzenplurikulturelle Kompetenzen’ Deskriptoren entwickelt (↗ Art. 19). Auch hier bleibt die enge Bindung an die Mehrsprachigkeit erhalten, ergänzt um interkulturelle und soziolinguistische Dimensionen: „Seeing learners as plurilingual, pluricultural beings means allowing them to use all their linguistic resources when necessary, encouraging them to see similarities and regularities as well as differences between languages and cultures.“ (Council of Europe 2018: 27)
Die Deskriptoren für die mehrkulturelle Kompetenz machen nur einen kleinen Anteil in dieser Ergänzung aus und bewegen sich sehr stark in dem den sprachlichen Fertigkeiten zugeordneten Bereich der soziolinguistischen Angemessenheit von kommunikativem Handeln. Der Companion versteht sich als Grundlage für Curricula und Lernziele zum interkulturellen Verstehen, erreicht aber das mit dem Stichwort „democratic citizenhsip“ skizzierte Verständnis von Teilhabe an einer mehrkulturellen Gesellschaft nicht. Hinzu kommt, dass die Deskriptoren für die mehrkulturelle Kompetenz bzw. soziokulturelle Angemessenheit nach dem Vorbild des Referenzrahmens in den sechs NiveaustufenNiveaustufe A1 bis C2 hierarchisiert sind. Damit schreibt der Companion ein Problem fort, das aus bildungspolitischer Perspektive schon beim ursprünglichen Referenzrahmen zu Kontroversen geführt hat: Die Zuordnung der Kompetenzen zu diesen Niveaustufen wurde in der Praxis genutzt, um diese Niveaustufen als Schwellen z.B. für den Zugang zu Aufenthaltsrechten, d.h. für Segregation einzusetzen (vgl. Krumm 2007). Nicht die Möglichkeit individueller Profilbildung, die der Referenzrahmen durchaus anbietet, sondern diese Einstufung und eventuell SegregationSegregation von Zuwanderern bestimmt den migrationspolitischen Gebrauch trotz aller Kritik, die auch innerhalb des Europarats dazu formuliert wurde (vgl. Strik 2013). Hinsichtlich der Erweiterung des Referenzrahmens um Deskriptoren für plurikulturelle Kompetenzen wurde daher die Sorge geäußert, dass nun auch hier Niveaustufen zu einer (sozialen und politischen) Bewertung kultureller Leistungen (↗ Art. 48, 49) und damit zum Ausschluss von Menschen aus der Gesellschaft führen könnten: „Des Weiteren können die Konzepte, von denen vornehmlich die Rede ist (Mediation, Mehrsprachigkeit, Interkulturalität, etc.), nicht auf Deskriptoren, Niveaustufen, Kompetenzen, Aufgaben und kognitive Operationen beschränkt werden, insofern als sie hauptsächlich mit den Lebensgeschichten, den Vorstellungswelten und den Einzelerfahrungen der Menschen und der Veränderlichkeit der Situationen verknüpft sind (↗ Art. 6). Diese Konzepte lassen sich per se nicht in Raster fassen, außer man will sie kontrollieren und technischem Kalkül unterwerfen, um jegliche Diversität und Heterogenität zu unterbinden. Wie wird es sein, wenn die staatlichen Behörden sich dieser neuen Deskriptoren bemächtigen, um die „Mediationskompetenz“ der Geflüchteten zu normieren und zu begutachten, oder wenn sie prüfen, ob deren Verhalten den kulturellen Gepflogenheiten entspricht, um daraus dann den „Beweis“ für ihre IntegrationIntegration abzuleiten, oder um daran eine notwendige Bedingung für den Erhalt der Aufenthaltserlaubnis oder der Staatsbürgerschaft zu knüpfen?“ (ACEDLE/ASDIFLE/Transit-Lingua 2017). Diese Kritik der französischen Fachverbände ist leider bisher weder in der Fachdiskussion noch im Europarat aufgenommen worden, so dass die damit aufgeworfene Frage nach der Normier- und Überprüfbarkeit interkultureller Kompetenzeninterkulturelle Kompetenz unter dem Gesichtspunkt ihrer politischen Verwertbarkeit weiterhin offen ist. Die Debatte um Werte- und Orientierungskurse für Migrantinnen und Flüchtlinge zeigt, dass die Tendenz zu einem homogenisierenden, an nationalen oder ethnischen Gruppen orientierten Kulturbegriff in der Öffentlichkeit und in der Bildungspolitik keineswegs überwunden ist (↗ Art. 1, 4).