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4. Praxisrelevanz

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Die Enkulturation in der Schule (↗ Art. 4) soll Kindern und Jugendlichen, die im Staat ansässig sind, Inländern wie Zugewanderten, helfen, sich die kulturellen Traditionen und Gegebenheiten anzueignen und gemeinschaftlich weiterzuentwickeln, die ihnen das Einleben, Überleben und „gute“ Leben miteinander ermöglichen. Dadurch wird die Gesellschaft als Gemeinschaft stabilisiert, werden kulturelle Rückschritte mit ggf. verhängnisvollen Folgen verhindert und in dynamischen, multikulturellen Gesellschaften werden die Kulturentwicklung und die Kulturerneuerung gefördert. Die Enkulturation erfolgt über Lernprozesse im Schulunterricht und im gestalteten gemeinsamen Schulleben. Dazu veranlasst die Schule Kinder und Jugendliche – erstens – zentrale Inhalte der Traditionskultur des Landes anzueignen und zu resubjektivieren wie die Sprache, die akzeptierten Kommunikations- und Interaktionsformen, die NormenNormenSiehe WerteNormenSiehe Werte und WerteWerte, die Moral und das geltende Recht. Diese notwendige Kulturaneignung kommt bei aller gebotenen Toleranz nicht ohne Anpassung aus (↗ Art. 37). Zweitens hält sie sie zu kulturellen Tätigkeiten an, bei deren Gestaltung sie größtmögliche Freiheit haben sollen, sich kulturbestimmt zu verhalten, ihr Selbst auszudrücken, zu präsentieren und zu verwirklichen (z.B. in Projekten, Festen, Feiern, Theater- und Musikaufführungen, Kunst-Ausstellungen, Aktionen, Bewegung, Riten und Ritualen, Spielen usw.). Schließlich macht die Schule bei der Enkulturationsfunktion Kultur auch selbst zum Lerngegenstand und behandelt mit allen Schülerinnen und Schülern kulturbedingte Unterschiede bei Mentalitäten und Handlungsweisen selbstkritisch und ideologiekritisch (vgl. beispielsweise ThemenThemenwie Gerechtigkeit, Gleichheit usw. wie Gerechtigkeit und Gleichheit, Individuum und Gemeinschaft, Macht und Herrschaft, Freiheit und Zwang, System und Selbst). Gerade diese Aufklärung von kulturspezifischen Identitätsmustern führt bei allen Beteiligten zu einem distanzierenden Blick auf ihre Handlungsmuster und zu einer interkulturellen KritikfähigkeitKritikfähigkeit. Sie hat ohne Zweifel erziehende und bildende Effekte. Überhaupt gelingt die Enkulturation umso besser, je mehr man die (vermeintlich) nationalkulturelle Perspektive verlässt und stattdessen das Kind und den Jugendlichen mit fremdkulturellem Hintergrund in seiner Rolle als Schüler oder Schülerin innerhalb der Lerngruppe oder Klasse betrachtet und Erziehung ohne Kulturalisierung betreibt (Hamburger 1990; Mecheril 2004).

Sprache (mündlich/schriftlich, verbal/nonverbal), Religion oder WeltanschauungReligion oder Weltanschauung, Weltansicht, Normen, WerteWerte, Geschmacksurteile, Gefühle und ErlebnisformenErlebnisformen, kultur- und zivilisationsadäquates Verhalten – all das sind Bausteine der Identität des Menschen (↗ Art. 1). Die kollektive Gebundenheit führt zu seiner sozialen IdentitätIdentität, in die die persönliche Identität, bestehend aus individuellen Erfahrungen, das Selbst des Menschen, eingebettet ist. Angesichts großer Zahlen von Kindern und Jugendlichen mit MigrationshintergrundMigrationshintergrund stehen Erziehung und Bildung hier vor einer großen Herausforderung. Einerseits müssen sie der Grundsorge des Menschen nach Identität durch das ihm Vertraute, durch seine Sprache und sein kulturelles Gedächtnis Rechnung tragen, andererseits müssen sie um des gelingenden Lebens in einem anderen KulturraumKulturraum willen nationale, ethnische oder volksgruppenspezifische kulturelle Fixierungen aufbrechen. Mobilitäts- und Migrationserfahrungen müssen aufgearbeitet und es muss den Betroffenen zu einer neuen Identitätskonstruktion verholfen werden. Die Soziologie der modernen Gesellschaften hat zur Vorstellung von mehreren Bereichsidentitäten beim Menschen geführt, zur Vielfalt möglicher Identitäten in unterschiedlichen privaten und gesellschaftlichen Kontexten. In ihnen ist das ehemals homogene Eigene mit Fremdem verflochten und von Fremdem durchdrungen, es ist sozusagen eine „transkulturelle Collage“ aus Altem und Neuem, Eigenem und Fremdem nötig (Welsch 1995: 42f.; Kostalova 2003: 242). Auf diese Weise kann in multikulturellen Gesellschaften durch Erziehung und Bildung eine neue, postnationale Identität entstehen, die transnational, multilingual und multikulturell konturiert ist (↗ Art. 41).

Interkulturelle Kompetenzinterkulturelle Kompetenz (↗ Art. 43, 49) bei Kindern und Jugendlichen ist ein weiteres Anliegen der Pädagogik multikultureller Gesellschaften. Mit Interkultureller Kompetenz ist die Fähigkeit gemeint, auf der Basis eines geklärten EigenkulturbewusstseinEigenkulturbewusstseins fremde Kultur und fremde Lebensformen als Bedingung der Möglichkeit menschlicher Lebensentwürfe zu akzeptieren und darüber in einen Dialog zu treten. Wer interkulturell kompetent ist, überwindet den Ethnozentrismus und bemüht sich um eine „doppelte Optik“, d.h. darum, die Wirklichkeit auch mit den Augen eines Fremden zu sehen, und ist offen dafür, dadurch zu einem neuen, vertiefteren Selbstverstehen zu gelangen. Denken in Polaritäten, StereotypenStereotypen und Klischees (↗ Art. 34) verbietet sich hier, einerseits aus dem Willen um Verständigung und andererseits aus einem Bildungsinteresse, das W. v. Humboldt mit der Formel ausgedrückt hat, der Mensch solle zum Zwecke der MenschenbildungMenschenbildungZweck der „soviel Welt, als möglich ergreifen und so eng, als er nur kann, mit sich verbinden“ (v. Humboldt 1793/1963) (vgl. auch Essinger & Kula 1987; Wierlacher & Stötzel 1996).

Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik

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