Читать книгу Sind wir noch ganz sauber? - Hanne Tügel - Страница 10
Schmutz bleibt ungern, wo er ist
ОглавлениеLiegt Schmutz in der Atemluft, kann man ihm kaum entgehen – wer an einer Hauptstraße wohnt oder als Pollenallergiker im Frühjahr im Park spazieren geht, wird das seufzend bestätigen. Trotzdem hätten wir Grund, dem Himmel zu danken, denn er verhält sich dem Atemwesen Mensch gegenüber ziemlich gnädig. Für die Schadstoffe, die wir mit unserer Art zu leben sorglos in die Luft pusten, gewährt er eine Art Strafnachlass. Die chemischen Reaktionen und Austauschprozesse in den atmosphärischen Schichten hoch über der Erde sind kompliziert. Teilchen reagieren miteinander, erzeugen neue Moleküle, die mal harmlos, mal schädlich sind und mal Richtung Boden, mal Richtung Weltraum abdriften. Im Endeffekt wirken sie segensreich, zum Beispiel, indem sie Wolken erzeugen, die reinigenden Regen schicken.
Wie schmutzig die Luft ohne Hilfe dieser Atmosphärenchemie wäre, hat das Umweltbundesamt berechnet. Was für eine Luft müssten wir atmen, wenn sich aller Dreck seit Beginn der Industrialisierung vor 200 Jahren in den bodennahen Luftschichten angereichert hätte? Das Ergebnis ist, dass die Atemluft überall auf der Welt „am ehesten der in London während der großen Smog-Katastrophe im Dezember 1952“ entspräche.
Die war legendär und apokalyptisch. Sie entwickelte sich als Folge einer Inversionswetterlage, die am 5. Dezember begann. Kalte Luft breitete sich in Bodennähe aus, und alle fingen an zu heizen, damals mit Kohle. Dazu kamen Ruß und Rauch aus Fabrik- und Kraftwerkschornsteinen. Weil kein Wind wehte und die obere warme Luftschicht wie ein Deckel über der Stadt lag, blieb der hoch konzentrierte Smog über der Stadt gefangen und konnte nicht wie sonst ins Umland entweichen. Der schwefelhaltige Nebel wurde so dicht, dass Menschen ihre ausgestreckten Hände nicht mehr sehen konnten. Autofahrer verließen ihre Wagen, versuchten, sich zu Fuß durchzuschlagen, tasteten sich dabei an den Wänden entlang. Wenn sie es bis nach Hause geschafft hatten, sahen sie rußgeschwärzte Gesichter im Spiegel. Der Verkehr brach zusammen. Krankenwagen hatten keine Chance mehr, die Menschen in die Kliniken zu bringen. Von Husten und Atemnot geplagte Patienten versuchten die überlasteten Notaufnahmen zu Fuß zu erreichen. Nicht allen gelang es. Den Bestattern gingen die Särge aus.
Die Katastrophe, die nach Schätzungen 4000 bis 12 000 Todesopfer forderte und weitere hunderttausend Londoner in Panik versetzte und bei ihnen zu Atemnot führte, war ein Weckruf. Als Folge trat vier Jahre später der „Clean Air Act“ in Kraft. In Deutschland trug Willy Brandt 1961 im deutschen Wahlkampf seine Vision vom „blauen Himmel über der Ruhr“ vor. Millionen Tonnen von Asche und Ruß sanken damals aus ungezählten Hochöfen, Kraftwerken und Stahlkochereien ungefiltert aufs Ruhrgebiet. Heute haben sich brutale Smog-Ereignisse in die Großstädte Asiens verlagert. Wenn es dazu kommt, hilft nichts anderes, als auf Hilfe von oben zu warten: auf Regen und Wind. In London wehte er nach vier Tagen aus Südwest.
Unter dicker Luft nach Inversionswetterlagen haben bis heute besonders Städte in Kessellagen wie Stuttgart zu leiden. Anderswo durchmischen sich Luftschichten über Ballungsgebieten, in denen viel Schmutz anfällt, recht schnell. Und jeder Niederschlag „wäscht“ die bodennahe Luft. Er holt Staub und Schwebteilchen heraus und verteilt sie weiträumig auf alle Oberflächen, die sich anbieten: Straßen, Häuser, Dächer, Felder, Wälder, Flüsse, Seen. Mal vereinigen sich die Schmutzpartikel mit denjenigen im Boden und versickern dort oder bleiben haften, mal gelangen sie direkt oder über Umwege in Gewässer und von da aus irgendwann ins Meer.
Im normalen Alltag nehmen wir diese ständige Umlagerung der Schmutzpartikel kaum wahr. Wasser- und Bodenverschmutzung betreffen uns nicht so unmittelbar wie die der Luft. Dass Schmutz auch in Gewässern gefährlich ist, merken wir höchstens, wenn eine Algenblüte im Sommer den Sauerstoff aus einem Fluss holt oder Hygieneämter einen Badesee wegen Bakterien- oder Parasitenbefall sperren. Epidemien durch kontaminiertes Trinkwasser haben wir in Europa nicht mehr zu befürchten – aus dem Hahn kommt Wasser, dem wir vertrauen können. Die Zeiten, in denen die Elbe wegen Industrieeinleitungen aus Ostdeutschland als einer der dreckigsten Flüsse Europas galt oder die Sandoz-Katastrophe 1986 im Rhein ein Massenfischsterben verursachte, sind seit Jahrzehnten Geschichte.
Der Himmel hilft uns. Behörden kümmern sich. Grenzwerte bändigen den Schmutz. In dieser Situation passt es, darüber nachzusinnen: Wie gefährlich ist denn nun eigentlich welcher Schmutz wann und wo?